Oper "Peter Grimes" im Nationaltheater: "Gottesdienst an der Menschlichkeit"

München - Der junge Lehrling ist auf der Fangfahrt mit dem Fischer verstorben. Die Umstände sind verdächtig, aber Beweise für eine Verurteilung von Peter Grimes fehlen. Trotz eines Freispruchs bleibt das Stigma des Gewalthaften an der Hauptfigur von Benjamin Brittens Oper hängen. Stefan Herheim inszeniert das Werk, Edward Garner dirigiert.
AZ: Herr Herheim, mir ist diese Oper unsympathisch, weil sie mich dazu drängt, Mitgefühl für einen Menschen zu entwickeln, der in irgendeiner Weise Kinder missbraucht. Was haben Sie zur Verteidigung von "Peter Grimes" anzubieten?
STEFAN HERHEIM: Im stummen Zentrum dieser Oper steht die Unschuldsvermutung. Sie gilt eigentlich, bis das Gegenteil bewiesen ist. Benjamin Britten und Peter Pears haben alles aus der Vorlage entfernt, das darauf deuten könnte, dass Peter Grimes direkt Schuld am Tod seiner Lehrlinge trägt. Getilgt wurde auch alles, was auf Pädophilie oder Homosexualität hinweisen könnte. Um so mehr führt das Gerücht zur Tragödie in dieser Oper. Insofern sind Sie mit Ihrem Unbehagen in die gleiche Falle geraten wie die Bewohner des Fischerdorfs.

"Grimes ist kein von Gier getriebener Soziopath"
Aber irgendwie sind die Kinder zu Tode gekommen.
Es ist keine Frage, dass sich Peter Grimes ihnen gegenüber rücksichtslos verhält. Er ist 24 Stunden am Tag getrieben von der Idee, einen Fischschwarm zu entdecken, der ihn reich genug macht, um Ellen Orford heiraten zu können. Auch wenn ein Sturm aufkommt, segelt er los. Ich stelle mir aber die Frage, was ihn umtreibt, das zu machen.
Welche Antworten könnte es auf diese Frage geben?
Mit Sicherheit ist Grimes kein von Gier getriebener Soziopath. Ihn verlangt nach Geld - im Glauben, dieses könnte die Gerüchte zum Verstummen bringen. Vielleicht jagt er den Fischschwarm auch in einem symbolischen Sinn: als Menschenfischer. Sein Name Peter scheint mir kein Zufall zu sein. Es ist Petrus gemeint, der Fels, auf den die Kirche gebaut ist.
"Kapitän Balstrode ist ein Mitläufer"
Und was bedeutet Grimes?
Schmutz oder Dreck. Sein Name polarisiert also das Heilige und das Böse. Und da Peter Grimes selbst von diesen Extremen getrieben wird, bleibt die Frage nach der Mitte des Menschen im Zentrum dieser Oper irritierend zweideutig und offen.

Was mich auch stört, ist der merkwürdige Schluss, wenn der an sich einigermaßen sympathische Kapitän Balstrode Peter dazu drängt, Selbstmord zu begehen. Und dann kippt Britten da noch eine christliche Soße drüber.
Grimes geht in den Tod für die Menschheit - das wäre die christliche Lesart. Aber das darf man bei Britten nicht theologisch verstehen, sondern psychologisch und philosophisch. Es bedeutet, dass es keine Lösung für das Problem Peter Grimes in der Realität dieses Dorfes gibt. Balstrode kann dort nur existieren, weil er sich angepasst hat und den Regeln folgt. Er ist ein Mitläufer. Dass er Peter Grimes sozusagen Sterbehilfe leistet, bedeutet eine absolute Resignation gegenüber dem gesellschaftlichen Status Quo, den niemand zu ändern bereit ist.
Leben in einer angstgesteuerten Gesellschaft
Warum passt sich Peter Grimes nicht an?
Trotz seiner Rohheit und seinen elementaren Absichten ist Grimes ein Visionär mit einem revolutionären Potential. Er möchte eine Stütze der Gesellschaft sein, er sucht ein Zuhause unter den Menschen und träumt von einer besseren Welt. Ihm wurde aber nie die Gelegenheit zur Selbstrealisierung gegeben. Ich betrachte dieses Stück wie ein Palimpsest mit mehreren Schichten sowohl räumlich als auch zeitlich. Der Junge scheint letztendlich niemand anderes als Peter Grimes selbst zu sein. Er lebt in einer angstgesteuerten Gesellschaft, in der jeder das Kind in sich töten muss, um zu bestehen. Jeder hat somit auch Schuld am Tod von Peter Grimes. Alle gehen über diese Leichen, um nicht selbst Außenseiter zu werden.

Warum geht Grimes nicht einfach aus dem Fischerdorf weg?
Das ist der Rat, den ihm Balstrode gibt. Aber wenn er das täte, wäre aus Grimes selbst ein resignierter Balstrode geworden. Und das wäre eine Bestätigung der angstgesteuerten Gesellschaft und ein Verrat an Benjamin Brittens Humanismus der Nächstenliebe und des Vertrauens.
Was macht Brittens Humanismus konkret aus?
Britten war Pazifist. Er ging 1939 mit Peter Pears von England in die USA, wohl auch, weil er sich dort eine größere Toleranz gegenüber seiner sexuellen Orientierung erhoffte. Aber die USA blieben ihm fremd. Als er 1942 zurückkehrte, wurde er als Kriegsdienstverweigerer vor Gericht gestellt.
"Diese Oper ist ein Musikdrama über die Menschheit"
Wenn ich richtig sehe, ist das Ihre erste Inszenierung einer Oper von Benjamin Britten. Stimmt das?
Zwar habe ich als Harry in "Albert Herring" an der Oper in Oslo mit 12 Jahren debütiert und dieselbe Oper für die Opernakademie meiner Heimat ausgestattet. Aber als Regisseur ist dies meine erste und langersehnte Begegnung mit Britten.

In Ihren Inszenierungen spielt öfter die Wirkungsgeschichte mit. Auch hier?
Kein Werk steht im kulturhistorisch luftleeren Raum und keine Oper lässt sich deuten, ohne die eigene Biografie einzubeziehen. Wenn Sie ein Problem mit "Peter Grimes" haben, liegt das womöglich auch an der Wirkungsgeschichte dieses Werks, an der Art und Weise, wie es bisher gezeigt und verstanden wurde. "Peter Grimes" spielt zwar in einem Fischerdorf an der Ostküste Englands, ist aber ein universelles Musikdrama über die Menschheit an sich. Das versuche ich sichtbar zu machen.
Wie beeinflusst das Ihre Zusammenarbeit mit dem Dirigenten?
Für mich ist bei jeder Inszenierung das Ziel, das musikalische Drama für die Ohren sichtbar, für die Augen hörbar und für Herz und Geist erlebbar zu machen. Hierfür müssen Dirigent und Regisseur an einem Strang ziehen. Diesbezüglich ist die Zusammenarbeit mit Edward Gardner ein echter Glücksfall. Selbst die symphonischen Orchesterzwischenspiele in dieser Oper sind trotz ihrer absoluten musikalischen Formen wie Fugato oder Passacaglia programmatisch angelegt, sofern sie aus der vergangenen Szene hervorgehen und in die nächste überleiten.
"Musiktheater appelliert an alle Sinne gleichzeitig"
Dass die Inszenierung aus der Musik entwickelt wäre, sagen einem allerdings oft auch Regisseure, bei denen das Publikum einen anderen Eindruck gewinnt.
Noch wichtiger für einen Opernregisseur als Noten lesen zu können ist die musische Sensibilität. Heute ist beides eine Seltenheit. Ich sage das nicht, um mich selbst zu loben, sondern weil es mich schockiert, wie überrascht manche Sänger und Dirigenten inzwischen sind, wenn ich mit der Partitur in der Hand erkläre, wie beispielsweise die Oboe im Orchester eine bestimmte Gedankenlinie einer Figur weiterführt, die für das Verständnis der Szene maßgeblich ist.
In Ihren Inszenierungen werden musikalische Gesten oft szenisch verdoppelt. Erzeugt das nicht eine Melodramatik, die unter Schauspielregisseuren verpönt ist?
Ich stehe zum Pathos der Oper und liebe das Musiktheater, weil es an alle Sinne gleichzeitig appelliert und dem Unerhörten eine Stimme gibt. Gerade das macht die Oper für mich heilig - sie ist ein Gottesdienst an der Menschlichkeit.
Premiere am Sonntag, 18 Uhr, Restkarten, Livestream auf staatsoper.tv. Weitere Vorstellungen am 10. und 13. März sowie am 9. und 7. Juli.