Oper im Gärtnerplatztheater: Im allerbesten Sinn schaurig schön

München - Sein Blick ist wirr, die Haare zerzaust und ungepflegt. Aus dem stattlichen, furchtlosen Wüstling, der für Freiheit und Ruhm sogar einen Pakt mit dem Teufel nicht scheut, ist ein Irrer geworden. Er meint, Adonis zu sein, und stammelt von seiner Venus, die ihm bald erlösen werde. Von den Mitinsassen wird er ausgelacht. Das Ärzteteam zwängt ihn in eine weiße Zwangsjacke.
Neuinszenierung von "The Rake's Progress"
Es ist ein starkes Bild, mit dem Adam Cooper seine Neuinszenierung der Oper "The Rake's Progress" von Igor Strawinsky am Gärtnerplatztheater beschließt. Mit diesem Finale fängt der Regisseur, auch bekannt als Darsteller von "Billy Elliot" in dem gleichnamigen Film aus dem Jahr 2000, den Stoff nicht einfach nur treffsicher ein.
Erschütternd aktuelle Metapher
Mit dem Irren in der Zwangsjacke gelingt ihm eine erschütternd aktuelle Metapher auf eine Welt, die gegenwärtig total aus den Fugen scheint. Und wie der junge Tenor Gyula Rab diesen wahnsinnig gewordenen Tom Rakewell spielt und singt, hell-fragil im Timbre, das ist im allerbesten Sinn schaurig schön.

Noch nicht ganz aufgewärmt
Bis dahin muss man allerdings etwas Geduld mitbringen. Das gilt vor allem für den ersten Akt: Auf der Premiere mussten sich alle erst einmal aufwärmen, auch der Dirigent Rubén Dubrovsky und das Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz. Die musikalische Leitung des designierten Chefdirigenten wirkte zunächst in der Farbgestaltung, Stilistik und Klanglichkeit recht diffus.
Anthony Bramall fehlt bisweilen
Auch die Einsätze - zumal im Blech - kamen nicht immer präzise. Hier vermisste man bisweilen den Noch-Chefdirigenten Anthony Bramall. Es wäre genau sein Stück gewesen, zumal Strawinsky in diesem 1951 in Venedig uraufgeführten Bühnenwerk eine neoklassizistische Nummernoper im Stil von Bellini, Rossini oder Mozart entwirft - gewürzt mit modernen Mitteln.
Die Pandemie ist schuld
Noch in bester Erinnerung ist Bramalls geradezu exemplarische Leitung der Strawinsky-Oper 2014 in Leipzig. Dass er die erste Neuproduktion der aktuellen Gärtnerplatz-Saison nicht selber leitete, ist der Pandemie geschuldet. Weil "Mass" von Leonard Bernstein coronabedingt gestrichen werden musste, wurde Dubrovsky stattdessen für den jetzigen Strawinsky verpflichtet.
Etwas unbeholfen
Indessen schwächelte im ersten Akt auch die Regie. Cooper bediente in der von Walter Vogelweider entworfenen Scheune samt Strohballen anfangs die Spieloper. Hier vergnügt sich der Wüstling mit der Anne von Mária Celeng, der Tochter von Trulove (Holger Ohlmann). Im Heu zupft er auf einer Gitarre herum.
Das wirkt im Spiel etwas unbeholfen, und auch gesanglich nimmt man Rab den Haudegen Tom nicht ab: zu brüchig das Timbre. In ihrem Röckchen wirkt zudem Celengs Anne noch arg naiv, aber noch vor der Pause im zweiten Akt gewinnt die Produktion an Fahrt.
Anna Agathonos - stimmlich eine schiere Freude
Allein der Auftritt von Anna Agathonos als vollbärtige Türkenbaba ist darstellerisch und stimmlich eine schiere Freude. Schon als Madame Flora in "Das Medium" von Gian Carlo Menotti oder als Berta in Rossinis "Barbiere" präsentierte sie sich als wahrlich große Komödiantin. Als konfuser statt gewiefter Auktionator Selem heimst auch Juan Carlos Falcón einige Lacher ein, ebenso Ann-Katrin Naidu als schrill-derbe Mutter Goose. Dagegen lässt der teuflische Nick Shadow von Matija Meić das Blut in den Adern gefrieren.
Ein Opernkrimi allererster Güte
Mit seinem unheilvoll dunkel gefärbten Bariton macht Meić das Böse geradezu hörbar, ein Opernkrimi allererster Güte ist das nächtliche Höllenduell zwischen Rabs Tom und seinem bösen Schatten Nick auf dem Friedhof. Und doch ist es die finale Wahnsinns-Szene, die lange im Gedächtnis bleibt. Am Ende erscheint dem wahnsinnigen Adonis-Tom seine Venus. Es ist Anne, die ihn in der Irrenanstalt besucht und in den Schlaf wiegt: ein letztes Lebewohl, denn Schlafes Bruder naht bereits.
Ein ganz großer Theatermoment
Wie Celengs Anne dem Wahnsinnigen sanft tröstet und beruhigt, ihn liebevoll seine Würde lässt, das ist ein ganz großer, bleibender Theater-Moment. Auf der Premiere poltert Cooper im Schlussapplaus im Schottenrock auf die Bühne, der Kostümbildner Mayerhofer verhüllt sein Gesicht mit einer pink glitzernden Kappe. "Be different!", prangt in dicken Lettern auf seinem T-Shirt. Ohne unser Gärtnerplatz-Theater wäre München gewiss farbloser und unsinnlicher.
Wieder am 13., 15., 21. und 23. Oktober im Gärtnerplatztheater. Karten unter Telefon 089 2185 1960