Nuran David Calis über "Die 40 Tage des Musa Dagh" nach Werfel
Das Staatsschauspiel beschäftigt sich mit dem Völkermord an den Armeniern durch die Türkei im Ersten Weltkrieg
Vor hundert Jahren wurden über eine Million Armenier im Osmanischen Reich systematisch vertrieben, deportiert und massakriert – ein staatlich verordneter Völkermord, der bis heute von der Türkei nicht als Genozid anerkannt worden ist. „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ von Franz Werfel ist die berühmteste literarische Auseinandersetzung mit den Verbrechen. Regisseur Nuran David Calis nimmt den Roman zum Anlass, sich mit dem Thema im Marstall auseinanderzusetzen.
AZ: Herr Calis, war Ihre Familie auch vom Genozid an den Armeniern betroffen?
NURAN DAVID CALIS: Sie lebte in einem Dorf an der heutigen syrisch-türkischen Grenze. Plötzlich wurden alle armenischen Männer hingerichtet. Dann floh meine Urgroßmutter mit ihren Kindern mit der Hilfe türkischer Freunde an die Schwarzmeerküste. Andere Familienmitglieder flohen über den Libanon nach Russland, wieder andere über Griechenland nach Nord- und Südamerika. Die Familie meines Vaters lebte in Istanbul.
Wie gingen Ihre Eltern mit dem Trauma um?
Ich fand als Grundschüler in der Bibliothek meines Großvaters ein Buch, in dem Fotos von abgeschlagenen Köpfen und tote Armenier in der syrischen Wüste abgebildet waren. Meine Eltern haben mir das Buch in Panik aus der Hand gerissen.
Wie kamen Sie nach Deutschland?
Meine Eltern sind kurz vor dem Militärputsch von 1980 aus der Türkei nach Deutschland geflüchtet. Sie hatten das Gefühl, dass das Leben für die armenische Gemeinde dort immer schwieriger wird. Sie haben politisches Asyl beantragt und wurden neun Jahre später Deutsche.
Wann haben Sie Werfels „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ zum ersten Mal gelesen?
Als Teenager. Ich habe mich lange mit dem Buch beschäftigt. Es wurde mir von Intendanten auch immer mal wieder angetragen, aber ich habe es abgelehnt. Nun denke ich, dass die Zeit für eine Inszenierung reif ist.
Warum ist das so?
Im Ersten Weltkrieg war die Türkei mit Deutschland verbündet. Die deutsche Regierung erfuhr vom Genozid an den Armenieren – die Berichte deutscher Diplomaten sind eine wichtige Quelle. Aber sie unternahm nichts. Heute brauchen wir die Türkei zur Lösung der Flüchtlingskrise. Aber das Land führt im Osten des Landes einen Krieg gegen die Kurden – und wir halten die Klappe. Das Muster im Umgang mit der Türkei wiederholt sich: Man gibt in Menschenrechtsfragen klein bei, weil man von der Türkei etwas will. Deshalb ist das Thema auch für ein deutsches Publikum brisant.
Welche Gefühle empfinden Sie für die Türkei?
Ich liebe dieses Land über alles. Meine Mutter ist in Istanbul geboren, mein Vater in Sinop am Schwarzen Meer. Meine Großeltern liegen auf dem armenischen Friedhof. Die Türkei erkennt nicht an, dass sie ein Vielvölkerstaat ist, in der auch christliche Minderheiten wie Griechen und Armenier leben. Dieses Land ist für mich Heimat und Hölle zugleich.
Trotzdem fahren Sie immer wieder hin.
Die Türkei hat drei Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Aber sie führt auch Krieg gegen die kurdische Minderheit. 5000 Kurden sind in den vergangenen neun Monaten ums Leben gekommen. Ich war vor kurzem in den Grenzgebieten. Das Land ist kurz vor dem Kollaps, würde ich sagen.
Wie gehen die Türken mit dem Völkermord an den Armeniern um?
Für sie gibt es ihn nicht. In türkischen Schulbüchern heißt es: Es war Erster Weltkrieg, wir waren bedroht, und die Armenier haben mit den Russen kollaboriert. Höchstens einzelne Übergriffe werden zugegeben.
Wie wichtig ist der Roman von Werfel für die Aufführung?
Werfel hat vom Völkermord an den Armenieren erfahren. Er ist 1929 in die Türkei gefahren und hat mit Waisen und Überlebenden gesprochen. Sein Roman ist nicht rund. Ich spüre den Menschen, der mit sich ringt. Wir haben ihn zusammen gelesen, aber er dient mehr als Katalysator.
Es ist also mehr ein Projekt als eine typische Roman-Dramatisierung.
Ein solcher Abend darf nicht unter der Recherche ertrinken. Wir schreiben und basteln in der Nacht nach den Proben an den Texten. Im Marstall spielt ein Ensemble aus deutschen, türkischen und armenischen Schauspielern. Sie versuchen, sich gemeinsam zu erinnern. Das ist schwierig, weil sich beide Seiten nicht darüber einigen können, was passiert ist. Mich interessiert, welche Gefühle da hochkommen, wenn ein Problem wie der Gordische Knoten unlösbar ist. Der Abend ist in seinem Zugang erschütternd – und brutal in seinen Mitteln.
Ist das Problem überhaupt lösbar?
Die Aussöhnung zwischen Deutschland und Israel könnte ein Vorbild sein. Armenier. Türken und Deutsche sollten sich auf eine gemeinsame Geschichtsschreibung einigen, damit nicht jede Generation wieder auf dieses Trauma zurückkommen muss.
Das Dresdener Konzertprojekt „Aghet“ hat sich mit dem gleichen Thema beschäftigt. Der türkische EU-Botschafter verlangte von der Europäischen Union, Fördergelder für das Projekt zu streichen.
Wir sollen die Klappe halten. Die Reaktion der EU war erbärmlich. Der Arm dieser türkischen Regierung greift weit. Heute protestiert die Türkei gegen Böhmermann und die Dresdner Symphoniker. Morgen kommen sie in eure Redaktionen. Da muss man eine klare Linie ziehen.
Hat sich beim Residenztheater bisher jemand beschwert?
Nein. Aber ich weiß nicht, was passiert, wenn ich das nächste Mal in die Türkei fahre.
Premiere heute, 19.30 Uhr im Theater im Marstall, ausverkauft, evtl. Restkarten an der Abendkasse. Weitere Vorstellungen am 13., 18., 31. Mai, 3., 4., 30. Juni; www.residenztheater.de