"Nightcore": Wohlgefühle im Schnelldurchlauf

Geschwitzt wird ohne Leistung: Die Performance "Nightcore" in der Therese-Giehse-Halle.
von  Michael Stadler
Luis August Krawen (links), Anne-Gesa Rajia Lappe, Thomas Hause und Katharina Stark.
Luis August Krawen (links), Anne-Gesa Rajia Lappe, Thomas Hause und Katharina Stark. © Foto: Julian Baumann

Ein einzelnes Smartphone liegt auf dem weichen Boden in der Therese-Giehse-Halle, während das Publikum in den kreisrund mit weißen Tüchern verhangenen Raum hineinströmt. Man könnte meinen, jemand hat es verloren. Man könnte es aufheben. Aber niemand tut das.

Elektronische Musik wummert über die Lautsprecher, auf den Tüchern bewegt sich dazu per Videoprojektion ein Mischwesen: Der Kopf ist ein Abbild des Kopfes von Choreograph Luis Garay, der Körper digital animiert und übermenschlich flexibel. Dann erlebt man eine Demonstration, wie verstreute Zuschaueraufmerksamkeit plötzlich auf einen Punkt gebündelt werden kann. Denn der Club-Song erfüllt plötzlich den Raum nicht mehr, sondern ertönt aus dem Smartphone, das nun sogar einen eigenen Lichtkegel bekommt. Es hat nun endlich sein Solo.

"Nightcore": Zwischen Performance und Installation

Der Videokünstler Luis August Krawen hat bislang vor allem 3D-Welten kreiert. Mit "Nightcore" legt er nun sein Theaterdebüt hin. Der Titel seines zwischen Performance und Installation angelegten Projekts verweist auf eine Form des Remixens bereits vorhandener Musik. Zwei Schüler in Norwegen, Thomas S. Nilsen und Steffen Ojala Søderholm, kamen Anfang des 21. Jahrhunderts auf die Idee, den Eurotrash der Neunziger und diverse Trance-Songs um ein Viertel schneller abzuspielen, die Stimmen hochgepitcht, dazu schnelle Beats.

Rund eine Dekade später wurde der überdrehte Sound zum Vorbild für Streaming-Hits wie "Dance Monkey". Man kann den Nightcore nun als Symptom einer beschleunigten Zeit begreifen, als Erfüllung einer Sehnsucht nach Einfachheit in einer komplizierten Welt. Diese Musik "is not complex", heißt es im Text, der auf die Tücher projiziert wird. "It is repetitious. You can say it's cheap. Who wants to be cheap?"

Ja, offenbar viele. Der von Hannah Wolf ausgestattete Raum entspricht der Lust auf schlichten Eskapismus, doch das Wohlgefühl, das da versprochen wird, beruht im Gegensatz zu der Rasanz des Nightcore auf Entschleunigung. Aus einer neonblauen Hütte leuchtet das warme Licht einer mit 70 Grad beheizten Sauna, daran angebaut ist eine Dusche, um die herum ein Vorhang gezogen werden kann, wohl auch als Schutz vor voyeuristische Zuschauerblicken. Zwei neonblaue Liegestühle dienen sich als Erholung vom Wechselspiel aus heißem Saunieren und kaltem Duschen an. Ach, herrlich.

Von den Wellness-Möglichkeiten macht das vierköpfige Ensemble ausgiebig Gebrauch, was man auch als Provokation gegenüber der Leistungserwartung verstehen kann. Die Performerinnen und Performer schwitzen zwar, sind aber passiv. Allein die Luft um sie herum ist heiß. Zu Anstrengungen und Konflikten kommt es dennoch: Anna Gesa Raija Lappe und Katharina Stark fangen auf den Liegen einen Streit an, die Lippen formen lautlos Worte. Und Thomas Hauser dreht im Halbdunkel, nur mit Turnschuhen und Socken bekleidet, Kreise mit dem E-Roller.

Kreisläufe des Lebens und der Kunst

Der Abend rotiert um einige Kreisläufe des Lebens und der Kunst, da sind die ritualisierten Abläufe der Saunagänge, die Loops in der Musik. Das Performance-Quartett, zu dem auch Regisseur Krawen selbst gehört, schlägt zudem einen Bogen in die Vergangenheit, untersucht das technologisierte Heute, spricht in eingestreuten Videos aber auch von der Erkundung einer Höhle. Ein zweiter Meter großer Mensch wurde in den Tiefen entdeckt, viele Jahre später gilt ein Mitglied des Archäologen-Teams als vermisst. Was es mit diesen Mysterien auf sich hat, erschließt sich nicht unbedingt, aber man muss ja auch nicht alles verstehen.

In "Nightcore" steckt ein Geheimnis, eine Lust am Vergeheimnissen, am Unerklärlichen. Immer wieder sprechen die Vier im kaum vernehmlichen Alltagston, was ebenfalls die Erwartungen ans Sprachkunstzentrum Theater unterläuft. Herauszuhören sind Texte, die angenehme Gefühle auslösen sollen. "Autonomous Sensory Meridian Response", kurz ASMR, nennt sich das beliebte YouTube-Phänomen.

Kann das Theater auch das sein: ein Rückzugsraum für kollektive Wohlgefühle? Erhofft man sich hier angenehme Illusionen wie in Platons Höhle, gar Transzendenz vom Gefängnis des Körpers? In den Glücksversprechen der Trance-Musik und der Wellness-Industrie lauern auch Gefahren, der kritische Geist wird weggespült. "Nightcore" mag davor warnen, mit Ironie, wenn etwa das hauteng gekleidete Quartett in Yoga-Positionen sich dehnt und absurd verrenkt, dabei vor sich hin palavert. Gleichzeitig ist der Abend mit seinen Farben und Formen ein sinnlicher Genuss. Man applaudiert mit. Und macht sein eigenes Smartphone wieder an, um zu checken, ob jemand in der Zwischenzeit was getextet hat.


Therese-Giehse-Halle der Kammerspiele, Falckenbergstraße 1, nächste Vorstellungen: Freitag und Samstag sowie am 12. und 13. April, jeweils 20 Uhr, Karten unter Tel.: 233 966 00

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