Nicolas Stemann inszeniert "Der Vater" von Strindberg - die AZ-Kritik

Vor der Vorstellung rätselt noch der eine oder andere Besucher bei der Lektüre des Programmhefts, wer denn nun den Rittmeister, seine Frau Laura und die anderen Figuren spielen würde. Auf der Bühne dann der übliche, scheinbar improvisierte Beginn: Die Szenenanweisungen werden vorgelesen. Julia Riedler bittet das Publikum um Verständnis für die Textunsicherheit ihres Kollegen Daniel Lommatzsch: weil letzte Woche noch so viel geändert worden sei.
Das Spiel mit der Spielsituation ist in den Kammerspielen mittlerweile ein ranziges Ritual. Man könnte es weglassen. Denn auch die letzten überlebenden Premierenabonnenten der Ära Dorn erwarten nicht mehr, dass in Nicolas Stemanns Inszenierung von August Strindbergs „Der Vater“ die Wirklichkeit naturalistisch abgebildet wird.
Etwas lieblos
Entsprechend lieblos wird dergleichen abgespult: Wenn Julia Riedler wenig später nach einem Lehrer im Publikum sucht, aber nur Mitglieder des Freundeskreises der Kammerspiele in der ersten und Journalisten in der dritten Reihe entdeckt, schaut sie nicht mal mehr richtig hin.
Lommatzsch und Riedler wechseln sich als Laura und Rittmeister ab. Außerdem sind sie beide gleichzeitig – etwas mehr der Vater vielleicht. Denn sie tragen enge Reithosen, die das biologische Geschlecht verwischen. Das Duo groovt sich eine Viertelstunde ein. Dann machen sie auf dem Sofa Ernst: Ein Geplänkel der Eheleute eskaliert, und der Rittmeister zwingt seine Frau zum Oralsex, um sie zu demütigen.
Wer wen spielt, bleibt ziemlich egal. Und das ist gut so. Schon Strindberg hat bei aller Sympathie für den durch weibliche Niedertracht gestürzten Patriarchen die Macht- und Gewaltmittel dieses Ehekriegs einigermaßen gleich verteilt. Man zerrt – damals wie heute – am gemeinsamen Kind herum und streitet ums Geld.
Karl Marx statt Immanuel Kant
Diesem Fight gilt Stemanns Hauptinteresse, den misogynen Rest hat er entsorgt. Neu dazugekommen sind Thomas Kürstner und Sebastian Vogel. Sie untermalen das Duell mit Geige, diskretem Schlagzeug und zwei Theremins. Der eine ähnelt Karl Marx, obwohl an dieser Spielplanposition eigentlich Kants „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ dramatisiert werden sollte. Aber der Meisterdenker aus Königsberg ist nicht dafür bekannt, bei sich zu Hause Geschlechterkämpfe aufgeführt zu haben.
Strindbergs zweiter Akt wird bei Stemann das Scherzo seiner dreiteiligen Strindberg-Symphonie. Zeynep Bozbay und Benjamin Radjaipour geben ein jung verliebtes, infantiles Paar. Sie erzählen die Vor- und Nachgeschichte zum Showdown der Geschlechter, der einmal mit naiv kuschelnder Verliebtheit begann, ehe die Machtfrage gestellt wurde. Aber sie sind auch ein neues, befreites Paar des dritten Geschlechts, von dem Theorie-Texte sprechen, die sie aus der Bücherkiste ziehen.
Als Trio des Scherzo-Satzes singen offenbar schwule Herren der Camerata Vocale München im karierten Holzfällerhemd den Weibermarsch aus der „Lustigen Witwe“ und trinken mit dem Vater Bier aus Bügelflaschen. Nach diesem Rückfall in die gute alte Zeit der unhinterfragten Männlichkeit wird es wieder ernst: Zu Resten der großen Auseinandersetzung zwischen Laura und dem Rittmeister verschmelzen Riedler und Lommatzsch per Video zu Wiebke Puls.
Die RittmeisterIn liefert sich selbst ein
Da stellt sich heraus, dass die schöne Theorie vom dritten Geschlecht keine praktische Lösung bietet. Strindbergs Vater muss vor seiner Entmündigung noch mit der Lampe nach Laura werfen. Wiebke Puls hat schon ein blaues Auge, ehe sie sich an den Möbeln abreagiert. Dann beißt sie die Lippen zusammen. Mann und Frau in einer Person zu vereinen, ist ein innerer Kampf, den niemand lange aushält. Er macht alt, verlebt, hässlich und depressiv. Da bleibt der RittmeisterIn nur noch übrig, sich selbst die Zwangsjacke anzulegen und in die Psychiatrie einzuliefern.
Das bringt die von Beginn an stark angenäherten Figuren schlussendlich ganz zu sich selbst. Und der Geschlechterkampf löst sich ein wenig zu glatt im Allgemein-Menschlich-Psychologischen auf.
Stemann ist offenbar in seine wohlgesetzt klassizistische Periode eingetreten. Dafür kassierte er einige Buhs. Julia Riedler, Daniel Lommatzsch und Wiebke Puls spielen oft ein wenig zu routiniert. Aber sie sind Typen mit Ecken und Kanten. Was man von ihren irgendwie immer austauschbar wirkenden Kollegen auf der anderen Seite der Maximilianstraße nicht jeden Tag behaupten kann.
Wieder am 7., 20. und 25. Mai in der Kammer 1,Telefon 233 966 00