Neues Musical: Das Leben ist eine Baustelle
München - Zum Geschäftsmodell gehört es, dass die Jugendlichen von der Stoffentwicklung über das fertige Skript mit Choreografien und Liedern bis zur Aufführung unter professioneller Anleitung alles selbst machen. Den Besucher einer Probe zum Musical "Was macht eigentlich dieses Teil hier?" bewegt dann die Frage, woher junge Menschen die Idee finden, sich ausgerechnet mit Träumen und Traumata von Bauarbeitern zu beschäftigen. Vridolin Enxing und Dick Städtler, die beiden Masterminds hinter der Theaterabteilung des International Munich Art Lab, wissen die Antwort, ohne nachdenken zu müssen: "Vor der Tür".
Das Leben auf der Großbaustelle vor der Haustür serviert bekommen
Unmittelbarer Nachbar der ehemaligen Werkstätten der Stadtwerke in Sendling, wo das IMAL seit 1998 sein Labor betreibt, ist das kurz vor der Vollendung stehende Interims-Gasteig. Das 17-köpfige Ensemble, das seit vergangenem Jahres an dem neuen Stück feilt, bekam das Leben auf einer Großbaustelle live und täglich frisch in seine kreative Entwicklungsphase geliefert. Dazu gehört auch, dass sich das fast ausschließlich männliche Personal zwischen Betonmischern und Baugerüsten nicht immer gentlemanlike zeigt. Die jungen Frauen der Produktion thematisieren auch den Sexismus, den sie bei der Pause vor der Tür erlebten.
Die Frau, die sich mit dem Job als Bauleiterin einen Traum erfüllte, wird sofort weggemobbt. Mit "diesem Teil" aus dem Titel ist übrigens nicht das Kulturzentrum gemeint. Die Frage, was dieses Teil eigentlich mache, gehört zum überraschenden Finale der knapp 80-minütigen Show, die am kommenden Sonntag im Bavaria-Studio 6 in Grünwald uraufgeführt werden wird. Es wird viel gesungen und mitreißend getanzt. "Die Baustelle gibt den Rhythmus vor", heißt es in einem der Songs, und den Sound lauschten die Musiker dem Einrammen der Spundwände in der Baugrube nebenan ab.
Gefühlvolleres tragen ein "brachialer Bauarbeiter" oder ein "zauberhafter Zementierer" in der Show "Ich habe einen Traum - holt mich hier raus" vor. Fast alle hatten einmal andere Pläne für ihr Leben. Und damit ist das Team, das hier für zwei Jahre in einem europaweit vermutlich einmaligen Projekt an einer Musiktheaterproduktion mitwirkt, ganz dicht an ihrer eigenen Wirklichkeit.
Die Theaterchefs erinnern sich an das Mädchen, für deren türkischen Vater das berufliche Singen gleichbedeutend ist mit Prostitution. Oder an den farbigen Jungen, der nie gefragt wurde, was er eigentlich kann und was er will. Im Art Lab bekam er die erste Chance seines Lebens, und "so einen Tänzer haben Sie noch nie gesehen", erzählt Enxing. Dabei komme es gar nicht darauf an, Nachwuchs für die Bühne heran zu ziehen. "Nur zwei bis drei entscheiden sich hinterher für einen künstlerischen Beruf", erklärt Dick Städtler, "die meisten wissen dann, dass es bei ihnen nicht reicht". Aber es sei wichtig, es einmal probiert zu haben.
Musik und Theater bleiben weiterhin politisch angehaucht
Das IMAL gründeten er, Enxing und der vor vier Jahren gestorbene Theo König, besser bekannt und auch berüchtigt als die Anarcho-Rocker "Floh de Cologne". Ihr antikapitalistischer Geist ist noch ganz authentisch von der erbitterten Diskurskultur der APO-Jahre geprägt, und beiden ist klar, dass die Kluft zwischen den Generationen in den letzten drei Jahrzehnten nicht kleiner geworden ist. Deshalb drehen die zwei munteren Anfangsiebziger mit diesem Stück ihre Ehrenrunde und sie sind stolz darauf, dass ihre Nachfolge aus heimischem Anbau kommt: Ab 2023 werden Claudia Müssig, Klaus Freiberger, Andi Hartmann und Daniel Siebertz ein Leitungsquartett aus Ehemaligen bilden.
Auch, wenn die Jugend schon lange nicht mehr so rebellisch ist wie zu Zeiten der "Flöhe", sind ihre Musik und ihr Theater für Nachwachsende nach wie vor politisch. Der Programmzettel gibt einen Überblick von Schwarzarbeit bei BMW in München bis bis zur Menschenrechtslage bei den Arbeitsmigranten beim Bau der Stadien für die Fußball-WM in Katar. In seiner Wahlheimat am Ammersee wird Vridolin Enxing weiterhin Musik komponieren und plant ein Buch über die Geschichte der amerikanischen Indianer: Gesellschaften, in denen der Boden allen gehörte und das Eigentum keine Bedeutung hatte.
Bavaria-Studio 6, 25. Juli, 12 Uhr, 26. bis 28. Juli, 18 Uhr, karten@imal.de und Livestream auf YouTube