Interview

Münchner Kammerspiele: Das All-Abled Arts Festival

Die Kammerspiele starten ihr inklusives Festival - auch mit internationalen Gästen. Ein Interview mit der künstlerischen Leiterin Nele Jahnke
von  Anne Fritsch
Die Dragperformance des Drag Syndrome bringt weiteren Spaß in die Kammerspiele.
Die Dragperformance des Drag Syndrome bringt weiteren Spaß in die Kammerspiele. © Cameron McNee

Seit Barbara Mundel die Intendanz der Münchner Kammerspiele übernommen hat, integriert das Theater Schauspieler*innen mit kognitiven Beeinträchtigungen in sein Ensemble. Das "All Abled Arts"-Festival präsentiert jetzt vier Tage lang Eigenproduktionen und Gastspiele nationaler und internationaler Partner wie dem RambaZamba Theater aus Berlin, dem Teatr 21 aus Warschau und dem Schweizer Theater Hora: Kunst von und für Menschen aller Fähigkeiten. Der erweiterte Blick soll ästhetische Vielfalt zeigen, vor allem aber Lust machen auf ein für alle offenes Theater. Kuratorin Nele Jahnke hofft auf gute Begegnungen und jede Menge Kontakte mit dem Publikum. Im Interview erzählt sie von Chancen und Herausforderungen inklusiver Theaterarbeit.

AZ: Frau Jahnke: Die Kammerspiele sind das erste deutsche Stadttheater, das Schauspieler*innen mit kognitiver Beeinträchtigung im Ensemble hat.

NELE JAHNKE: Wir haben uns auf eine Reise mit unbekanntem Ausgang begeben. Jetzt sind wir in der vierten Spielzeit - und da ist dieses Wochenende ein Moment des Innehaltens: Was gibt es noch? Was machen unsere Verbündeten? Außerdem wollten wir die Szenen durchmischen, indem wir ein inklusives Festival an einem Ort der Hochkultur veranstalten. Wir wollen wieder über Kunst reden, nicht über Political Correctness. Ich arbeite seit zwanzig Jahren mit Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. Nicht weil ich so korrekt sein will, sondern weil sie tolle Künstler sind.

Ist durch das Vorbild der Kammerspiele in der Theaterszene etwas in Bewegung geraten?

Ich denke schon. Es gibt jetzt das "Programm für inklusive Kunstpraxis" der Kulturstiftung des Bundes, das nach unserem Vorbild der Kooperation mit der Freien Bühne München weitere sechs Tandem-Partner fördert, zum Beispiel das RambaZamba Theater und das Deutsche Theater Berlin. Allein, dass die Kulturstiftung des Bundes sich geöffnet hat, zeigt, dass sich etwas tut. Die Frage bleibt, inwieweit große Häuser bereit sind, ihre Strukturen zu ändern.

Was hat sich in den vergangenen Jahren innerhalb der Kammerspiele verändert?

Am Anfang gab es auch im Haus Berührungsängste. Da hat sich viel getan. Wir haben Probenzeiten angepasst, es gibt eingehaltene und lange Mittagspausen. Künstlerisch wurden viele Möglichkeitsräume entdeckt, es ist eine Lust entstanden, die Stärken der einzelnen zu entdecken. Jan-Christoph Gockel hat da schnell etwas für sich gefunden, auch Anne Habermehl hat früh Interesse gezeigt. Natürlich muss man bereit sein, die eigenen gewohnten Arbeitsstrukturen zu hinterfragen, was Tempo und Pausen angeht.

Diese strengen, alten und energieraubenden Theaterabläufe sind ohnehin nicht menschenfreundlich. Strahlt auch etwas Gelassenheit ab?

Ich glaube, dass alle davon profitieren. Klassisches Theater ist schließlich alles andere als familienfreundlich. Aber es muss gar kein Entweder-Oder sein, es kann mal was Superschnelles geben und dann halt wieder etwas Langsameres.

Hat sich auf der Seite des Publikums auch etwas entwickelt?

Am Anfang gab es eine große Unsicherheit, weil die Sehgewohnheit gefehlt hat: Darf ich das kritisieren? Wie soll ich das bewerten? Das hatte ich unterschätzt, weil das in Zürich, wo ich am Theater Hora gearbeitet habe, ganz anders war. Es sind jetzt auch mehr Menschen mit Beeinträchtigung im Publikum, wir bieten zum Beispiel Audiodeskription an. Und natürlich ziehen die neuen Ensemblemitglieder ihre Freundeskreise ins Theater. Und weil wir jetzt ganz verschiedene Stücke haben, ist es leichter geworden zu sagen: Das mag ich, das mag ich nicht.

Als über die "Antigone"-Inszenierung in Leichter Sprache gesprochen wurde, war das für viele ein Aha-Erlebnis. Da haben manche verstanden, was leichte Sprache bedeutet und für wieviele Menschen das relevant ist, zum Beispiel für Nicht-Muttersprachler.

Das Gefühl hatte ich auch. Und dieses Erlebnis haben viele Menschen, die sich diese Inszenierung anschauen und vorher nie einen Berührungspunkt mit Leichter Sprache hatten.

Auf diese Inszenierung gab es teils harsche Reaktionen, da hieß es zum Beispiel, das sei didaktisch und bevormundend.

Ich habe diese Kritiken in Leichte Sprache übersetzen lassen, damit die Kolleg*innen sie verstehen. Und Johanna Kappauf hat gesagt: "Aber da geht es ja gar nicht mehr um unsere Kunst." Ich finde, alles ist kritisierbar, aber ich will die Ebene verstehen, auf der etwas kritisiert wird. Irgendwie habe ich da Verlustangst gespürt. Vor der Premiere wurde ich gefragt: "Sophokles in Leichte Sprache zu übersetzen, das ist doch maximale Provokation, oder?" Da schwante mir, dass es ein riesiges Missverständnis gibt. Mir ging es nie darum zu provozieren. Es ist eine einzige Übersetzung, entspannt euch alle. Wir müssen doch nicht mit Entweder-Oder argumentieren, es gibt doch ein Sowohl-Als-Auch.

Es ist die einzige Inszenierung in leichter Sprache an einem deutschen Stadttheater.

Genau. Ich fände super, wenn es noch mehr davon gäbe. Und daneben Inszenierungen in komplexer Sprache. Auch ich vermisse in gewissen Momenten eine Hölderlin'sche Poetik, da hab ich auch eine gewisse Dialektik in mir selbst. Und das ist doch vielleicht okay.

Beim Festival gibt es unterschiedliche Produktionen und Gastspiele, vom Splatter-Tanz bis zum Theaterfilm.

Zum einen wollten wir Stücke der Kammerspiele zeigen, zum anderen verbündete Gruppen einladen. Das Teatr 21 zum Beispiel. Die sind mit "Libido Romantico" zu Gast, einem feinen Abend über Sexualität und körperlicher Selbstermächtigung von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. Das ist eher ein Tabuthema. Wir zeigen eine ästhetische Bandbreite.

Im Rahmenprogramm gibt es Parties, Konzerte und eine Drag Performance. Das klingt nach großen Spaß.

Genau! Es geht um eine gute gemeinsame Zeit, um Begegnung und Austausch. Eine neue Lockerheit vielleicht. Ich hoffe, dass wir in ein Sprechen über die Kunst kommen, über das, was wir sehen. Und vielleicht darüber, was wir uns für die Zukunft wünschen.

Was wünschen Sie sich denn für die Zukunft des Theaters?

Das Menschen mit Beeinträchtigung Theaterhäuser leiten, das fände ich gut. Und grundsätzlich wünsche ich mir, dass Theater es als Chance begreifen, ihre Arbeitsrhythmen zu überprüfen, ästhetische Erweiterungen und neue künstlerische Sprachen zuzulassen, sich an Absurdität zu freuen. Und natürlich, dass Inklusion keine Modeerscheinung ist, sondern nachhaltig bleibt. Das braucht Sorgfalt und Dranbleiben.

All Abled Arts, Kammerspiele, bis Sonntag, 14. Januar, www.muenchner-kammerspiele.de

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