Die "alte Dame" im Volkstheater: ein moralischer Stresstest

Wenn ein Ort Güllen heißt und sich für "Ruhe, Luft und Tradition" rühmt, darf man misstrauisch werden. Die Ruhe könnte eine Umschreibung sein für Verschweigen, die Luft verpestet und die Tradition grausam. In Friedrich Dürrenmatts "Der Besuch der alten Dame" jedenfalls ist der Ortsname ein erster Hinweis darauf, was folgt in dieser "tragischen Komödie".
Die steinalte und -reiche Dame, Claire Zachanassian, kehrt in den Ort Jugend zurück, um Rache zu nehmen. Rache an Alfred Ill, der sie im Stich ließ, als sie mit 17 schwanger war. Und an dieser Gesellschaft, die sie verleumdete und vertrieb. Jetzt, da sie ein Vermögen geerbt hat, will sie sich rächen: Eine Milliarde bietet sie dem verarmten Ort und allen, die darin wohnen, für die Ermordung von Alfred Ill.
Nun hat Sapir Heller das Stück am Volkstheater inszeniert. Sie fügt den Untertitel "Auftritt der Enkelin" hinzu und verschiebt die Perspektive auf die Generation der Nachgeborenen, die Erben von Schuld und Verantwortung. Vor einem Gaze-Vorhang versammeln sich die Güllener von heute. Bühnen- und Kostümbildnerin Anna van Leen hat sie in Kostüme gesteckt, die ihre Rollen (Bürgermeister, Pfarrer, Ärztin, Lehrer…) skurril überzeichnenund keinen Zweifel lassen: Zwischen Wollen und Können liegen hier Welten beziehungsweise Zeiten.
Die fetten Jahre Güllens sind vorbei. Während Klara nach ihrer Vertreibung "bumsreich" wurde, pfeift Güllen finanziell aus dem letzten Loch. "Die Erlösung lässt auf sich warten", bringt der Pfarrer die allgemeine Hoffnung auf den Punkt. Diese Erlösung soll Claire bringen, Enkelin der Claire Zachanassian, die sie nun als "Kind unserer Stadt" feiern. Sie ziehen eine abstrus-komische Begrüßungsshow ab. Nina Steils spielt Claire, eine Sängerin, die mit ihrem Musiker Boby (Fiete Wachholtz) arglos zu einem Konzert in den Ort ihrer Großmutter reist. Dass Boby sein E-Piano in einem Sarg transportiert, ist reiner Zufall: Claire weiß nichts von der unrühmlichen Geschichte. Erst der alte Richter von damals berichtet ihr, wovon die anderen so beharrlich schweigen. "Lügen, alles Lügen! Und warum sprechen wir überhaupt über einen Vogelschiss in der langjährigen Geschichte Güllens", erwidert der junge Alfred Ill, Enkel des Täters.
Das Gezeigte gilt auch für uns
Es ist kein großer Gedankensprung, das hier Gezeigte auf ein Land namens Deutschland zu übertragen - mit der Kollektivschuld am Holocaust. So ist dieses ganze Spiel ein moralischer Stresstest - mit der Frage, was das beispielsweise im Bezug auf wachsenden Antisemitismus bedeutet. Was Sapir Heller zeigt, ist also eine raffinierte Versuchsanordnung um vergangene und gegenwärtige Schuld.

Denn als die Wahrheit auf dem Tisch liegt und das Unrecht geleugnet wird, platzt Claire der Kragen. Sie bietet eine Milliarde für den Tod von Alfred Junior. Will wissen, ob die Gerechtigkeit heute mehr zählt als damals. "Die Welt machte meine Oma zu einer Hure, nun mache ich die Welt zu einem Bordell", sagt sie und bietet Güllen "Konjunktur für eine Leiche".
Jeder wetzt die Messer
Ab da gerät diese Welt unter Claires Balkon ins moralische Wanken. Natürlich lehnt der Bürgermeister das unmoralische Angebot zunächst kategorisch ab. Und doch beginnen alle, mehr Geld auszugeben als sie haben, gönnen sich jede Menge Bling-Bling auf Kredit. Nach und nach finden sich an allen Füßen neue gelbe Gummistiefel, die zum Symbol werden für den moralischen Niedergang, die allgemeine Gewissheit: Irgendwer wird die Milliarde holen. Irgendwie, irgendwo, irgendwann. Die Stimmung fühlt natürlich auch Alfred: Jonathan Müller spielt einen, der sich seines Lebens nicht mehr sicher sein kann. Immer wetzt einer eine Axt hinter ihm.
Anders als bei Dürrenmatt wird hier am Ende weder der Leichnam ausgehändigt noch die versprochene Milliarde. Aber: Es sieht nicht gut aus für diesen Ort, an dem man sich ein Deutschland-Fähnchen in den toten Baum pinnt, der unter dem leuchtenden Schriftzug "Home Sweet Home" die Bühne einnimmt. Güllen ist überall.
Das Verdrängen auch. Und auch wenn der Abend hie und da kleinere Längen hat: Was Sapir Heller da zeigt, ist relevant, bitterböse und in all seiner Komik ziemlich unheimlich. Es ist die Eskalation der Gewalt, ein nicht endender Kreislauf von Rache und Vergeltung.
wieder am Di, 30. April, 1. Mai und 19., 25. Mai sowie 13., 14. Juni, muenchner-volkstheater.de