Mit Orest in der Geisterbahn

Das Stück hat im deutschsprachigen Raum einen legendären Ruf, auch dank einiger schöner Fotos von Marianne Hoppe und Gustaf Gründgens. Der inszenierte 1947 in Düsseldorf Jean-Paul Sartres "Die Fliegen" mit einem aus heutiger Sicht vergifteten Identifikationsangebot an die Kriegsgeneration: Vergesst Schuld und Reue und lebt ganz neu im Hier und Jetzt.
Das Residenztheater beschäftigt sich derzeit mit der Aktualität der Mythen um Orest und die Atriden. Da mag es nahe liegen, Sartres weitgehend vergessenes Drama darauf zu testen, ob es zu heutigen Krisen etwas zu sagen hat. Bereits im Vorfeld scheinen der Dramaturgie und der Hausregisseurin Elsa-Sophie Jach allerdings Zweifel gekommen zu sein, weshalb Thomas Köck mit einem Prolog und Epilog beauftragt wurde.
Der raunt von Weltende und Untergang und davon, dass alles nicht mehr weiter gehen kann. Köck springt fahrig von der Schuld zu den Schulden und beklagt die Ausbeutung der Natur durch den globalen Kapitalismus. Von den Fliegen Sartres und der dort beklagten Hitze in Argos ist es nicht weit zu den Waldbränden in Griechenland und dem Klimawandel, was leider weder besonders originell noch sonderlich erhellend ist.
Vincent zur Linden (Orest) und der in eine klischeehaft blaustrümpfig-bebrillte Rationalistin verwandelte Pädagoge (Barbara Horvath) plappern das alles in einem Video. Was aber nicht als Kritik an den Schauspielern, sondern primär an der Oberflächlichkeit des Texts verstanden werden soll. Dann springt die Inszenierung in Sartres Übermalung der "Elektra" des Sophokles und dem Rachemord des Orest an Klytämnestra (Franziska Hackl) und Äghist (Florian Jahr). Der kalte, zynische und bisweilen auch schnoddrige Ton mag das Lebensgefühl der späten vierziger Jahre angesprochen haben. Heute wirkt er vor allem unglaublich geschwätzig.
Schlecht gealtert ist auch Sartres Vorstellung, man müsse über die klassisch-gipserne Antike ein paar Eimer mit Müll, Blut und anderen Körperflüssigkeiten kippen. In diesem Punkt erinnert der Text stark an Hugo von Hofmannsthals "Elektra" - nur hatte dieser Autor auch ein Gespür für Theater und die Notwendigkeit von Emotion, während Sartres Sprechautomaten philosophische Essays aufsagen, die viel behaupten, aber wenig dramatisch darstellen.
Die wackere Regisseurin macht das Beste daraus: Sie lässt ihre Darsteller auf einem hölzernen altgriechischen Theater herumturnen. Und sie hat die stets interessante, unglaublich körperbetont spielende Lisa Stiegler als Elektra. Auch ein singender Chor der Fliegen und etwas minimalistischer Techno (Georg Stirnweiß) sorgen dafür, dass die zwei pausenlosen Stunden nur mäßig langweilig werden.
Eine Verbesserung Sartres ist der Einfall, auf die Erinnyen zu verzichten und ihre Texte von den Ermordeten selbst sprechen zu lassen. Der Gott Jupiter ist schon in der Vorlage ein dramaturgisch bestenfalls mäßig gelungener Sparringspartner für Religionskritik. Dass die Figur auch in weiblicher Form nicht zu retten ist, dafür kann Evelyne Gugolz nichts.
Am Ende geht Sartre wieder in Köck über. Und das ist leider keine gute Idee, weil der Sartres philosophisches Geschwafel mit hastigen Assoziationen von Fliegen zu Drohnen verdoppelt. In diesem Wortschwall geht es auch kurz um heutige Aktivisten. Nicht einmal die obligatorische Warnung vor einem neuen Faschismus fehlt.
Dieses Einrennen offener Türen hat mit einer dramatischen Katharsis ungefähr so viel zu tun wie der Besuch einer Geisterbahn. Zuletzt tischt der Text noch die Erkenntnis auf, dass es auf den Einzelnen und sein Handeln ankäme. Vielen Dank für diesen Hinweis! Darauf wäre man ohne die moralische Anstalt des Theaters wirklich nicht gekommen. Die Atriden braucht man für diese Kalenderweisheit ebensowenig wie einen Autor, der heute kaum zu Unrecht nur noch als Partner der Simone de Beauvoir bekannt ist. Manchmal geht die Wirkungsgeschichte mit uns Männern gerecht um.
Wieder heute sowie am 13. und 16. Oktober, 3., 5. und 30. November, residenztheater.de