Menschenversuch im Labor der Engel
Der Britische Schriftsteller und Satiriker George Bernard Shaw enthüllte vor 100 Jahren das Urgesetz der Oper: Der Tenor möchte mit dem Sopran schlafen, während der Bariton beide daran hindert. Dieses erotische Dreieck beherrscht Verdis „Troubadour“, Wagners „Lohengrin“, Puccinis „Tosca“, aber auch einen Klassiker der Opernmoderne wie Debussys „Pelléas et Mélisande“.
In George Benjamins „Written on Skin“ verfällt der Sopran einem Countertenor, ehe er am Ende aus dem Fenster springt. Und der sie demütigende Bariton ist noch unangenehmer wie Scarpia. Auch mit verschlungenen Duetten und effektvollen Aktschlüssen – mal laut, mal verschweigend leise – folgt der 53-jährige Brite der Tradition.
Statt die Sänger wie bessere Orchesterinstumente zu behandeln, lässt er Schöngesang und Belcanto-Effekte zu: Die furiose Barbara Hannigan setzte das Prinzregententheater mehr als einmal mit einem „Messa di voce“, dem effektvollen An- und Abschwellen eines lange gehaltenen Tons, in Erstaunen.
Die hitzige Ehebruchs-Geschichte frei nach einer mittelalterlichen Vorlage hat der Textdichter Martin Crimp mit Mitteln des Epischen Theaters zu einer postdramatischen Kunst-Etüde abgekühlt, die trotzdem nie kaltlässt. Szenenanweisungen werden mitgesungen, die fern an Adam und Eva gemahnende Handlung von (gefallenen?) Engeln wie ein wissenschaftlicher Versuch durchgeführt, ohne dass je ein schwüler Hauch von „Jedermann“ über die Szene wehen würde.
Entscheidendes wie die offenkundig homoerotische Spannung zwischen Ehemann und Ehebrecher bleibt rätselhaft und wird so nicht durch billige Eindeutigkeit banalisiert. Die Regisseurin Katie Mitchell hat dies alles im zweistöckigen Bühnenbild von Vicki Mortimer kongenial umgesetzt: Die Engel agieren in kühlen Labors, die ein Zimmer umgeben, in dem die Geschichte aufgeführt wird. Wer gerade agiert, bewegt sich im Normaltempo, wer Pause hat, in Zeitlupe.
Das alles läuft mit der Präzision eines Uhrwerks ab. Es ist faszinierend anzuschauen, noch mehr aber zu hören. Benjamins Musik reagiert wach auf alles Szenische. Mit ein paar Gamben-Klängen springt die Geschichte in die Vergangenheit, Lyrismen werden von geschärften Ausbrüchen zerstört. Obwohl die Musik fest in der britischen Tradition verankert ist und hörbar an Benjamin Britten anknüpft, wirkt die faszinierend farbig instrumentierte Oper keine Sekunde konventionell.
Unter Kent Nagano und mit dem Klangforum Wien tönte alles noch eine Spur opulenter als in dem vom Komponisten dirigierten Mitschnitt der Uraufführung. Im Zentrum des pausenlosen Abends stehen aber die Sängerdarsteller, denen Benjamin die nötige Freiheit lässt, um trotz der Verfremdung auch emotional zu berühren. Der Counter Iestyn Davies strahlte als „The Boy“, Christopher Purves verkörperte mit fast tenoralem Bariton den Protector, die virtuose Barbara Hannigan seine Frau.
Leider kommen internationale Festival-Koproduktionen wie diese vor einem Jahr in Aix-en-Provence uraufgeführte Oper zu selten nach München. Die Begeisterung des Premierenpublikums sollte ermutigend wirken. Würdiger hätte Kent Nagano seine Amtszeit nicht beenden können. Wer Oper liebt, sollte dieses moderne Meisterwerk keinesfalls verpassen.
Noch einmal heute, 20 Uhr, und am Samstag, 19 Uhr, im Prinzregententheater, teure Restkarten unter Telefon 2185 1920