Maximal eindringlich: "Die Passagierin" im Nationaltheater
"Sie alle haben uns gehasst", sagt die Hauptfigur im zweiten Teil. "Ich, wir alle, die im Lager Dienst taten, konnten uns nicht damit abfinden." Das sind ungeheuerliche, erschreckende Sätze, mit denen sich hier eine SS-Frau zum Opfer macht und die in Auschwitz gequälten und ermordeten Menschen zu Tätern erklärt. Aber derlei starrsinnige Erklärungen hat es gegeben, und daher ist es richtig, dass die Oper "Die Passagierin" das Publikum mit derlei Starrsinn nicht verschont.
Die nun endlich in München gezeigte Oper von Mieczylsaw Weinberg geht auf die autobiografische Erzählung "Pasazerka" von Zofia Posmysz zurück, die selbst in Auschwitz inhaftiert war. Das Werk erzählt, ungewöhnlich genug, aus der Perspektive einer Täterin, die ihre Vergangenheit vor ihrem Mann - einem deutschen Diplomaten - verschwieg. Auf einem Ozeandampfer glaubt Anneliese Franz eines ihrer Opfer zu erkennen. Als ihr Mann, der um seine Karriere fürchtet, die Wahrheit wissen will, erinnert sie sich in Rückblenden an das Vernichtungslager.

Diese Szenen berühren Grenzen der Darstellbarkeit. Regisseur Tobias Kratzer hat sich entschieden, auf die gestreifte Häftlingskleidung und geschorene Köpfe früherer Inszenierungen zu verzichten. Die weiblichen Häftlinge erscheinen als Doppelgängerinnen der Passagierin. Diese Psychologisierung verkleinert nichts. Sie ist eine kluge Entscheidung, weil Gewalt erfahrungsgemäß in Andeutungen und kurzen Momenten der Nacktheit auf der Bühne stärker wirkt.
Die in bisherigen Inszenierungen oft allzu sympathische Lisa terrorisiert hier aus Eifersucht und unterdrückten lesbischen Gefühlen ihr Opfer. Wenn zuletzt der Verlobte Marthas beim Fest des KZ-Kommandanten von der SS mit Schlagstöcken zu Tode geprügelt wird, weil er statt des gewünschten Walzers aus widerständigem Trotz im Angesicht des Todes auf der Geige Bachs Chaconne gespielt hat, ist das ein Schock, der mehr nachhallt als der KZ-Realismus früherer Aufführungen dieser Oper.
Um das Grauen heraufzubeschwören, reichen hart gesprochene deutsche Befehle aus einem Lautsprecher, die Aufzählung von Häftlingsnummern und Weinbergs knapp-suggestive Musik. Dass der Komponist Schüler und Freund von Dmitri Schostakowitsch war, ist unüberhörbar. Tanzmusik wird verfremdend zitiert und manchmal klingen die "Sea Interludes" aus Benjamin Brittens Oper "Peter Grimes" an.

Trotzdem wirkt diese Tonsprache nie epigonal, weil Schostakowitschs Tonfall höhnisch greller Scherzo-Musik hier ohne Weitschweifigkeit auf den dramatischen Punkt gebracht ist. Weinberg ist ein Meister heftiger, knapp vermittelter Stimmungswechsel. Für Auschwitz genügen ihm schwere Akkorde, Glockenschläge und ein paar brutale Trommelwirbel, mit denen die Oper beginnt.
Alles bleibt kurz und knapp, mit hohem Theaterverstand komponiert. Und noch wichtiger: Diese Musik ist unmittelbar verständlich. Sie wirkt auch auf Hörer ohne Vor- und Spezialkenntnisse zur (russischen) Musikgeschichte.
Kratzer hat zu den beiden Zeitebenen der Oper eine dritte hinzuerfunden: Die uralte Lisa (Sibylle Maria Dordel) - äußerlich und in ihrer Bockigkeit der 101-jährigen Leni Riefenstahl nicht unähnlich - scheint sich an die Reise mit ihrem Mann zu erinnern. Wenn sie ihm Vorwürfe macht, beschimpft sie seine Urne, nach dem ersten Teil scheint sie ins Meer zu springen (Video: Manuel Braun, Jonas Dahl, Bühne: Rainer Sellmaier).

Sophie Koch (Lisa) und Charles Workman (Walter) singen und spielen überzeugend ein bürgerliches Paar mittleren Alters. Noa Beinart, Larissa Diadkova, Lotte Betts-Dean und Jacques Imbrallo haben nicht viel zu singen. Aber jedem, der in dieser Aufführung auf der Bühne steht, gelingen scharf charakterisierte, eindringliche Figurenporträts.
Der zweite Teil ist eine surreale Schiffsparty. Am Ende erscheint das reale Auschwitz kurz in Dokumentarszenen auf einem winzigen Monitor. Das leitet folgerichtig in den Schlussgesang Martas über, der Erinnerung und Vergessen reflektiert. Dass die Musik hier ganz zuletzt die Atonalität streift, muss auch den überzeugtesten Genusshörer nicht schrecken: Die herbe Schönheit des Schlussgesangs wirkt absolut konsequent, vor allem wenn sie so ausdrucksstark gesungen wird wie von der Sopranistin Elena Tsagallova.

Streiten könnte man über die Purifzierung der Partitur. Obwohl die 1968 für das Moskauer Bolschoi-Theater komponierte, aber erst 2010 in Bregenz uraufgeführte Oper in russischer Sprache komponiert wurde, wird nun - entsprechend der Herkunft der Figuren - primär deutsch und polnisch gesungen. Vladimir Jurowski hat alles gestrichen, was nur entfernt nach Konzession an die sowjetische Kulturpolitik schmeckt. Und das ist eine ganze Menge, wie jeder Besucher dem im Programmheft abgedruckten Originaltext entnehmen kann.

Oper ist allerdings kein Seminar. Die Wahrheit ereignet sich in dem Fall auf der Bühne. Und dazu ist zu sagen: Die im Original allzu opernhafte Sangesfreude der KZ-Häftlinge berührt hier nicht peinlich. Kratzers Sicht umgeht auch das Problem, dass die Oper aus politischen Gründen die Shoah verdrängt, obwohl der Komponist selbst unter dem sowjetischen Antisemitismus zu leiden hatte. Die Kürzungen sind ein Gewinn. So, wie "Die Passagierin" hier gezeigt und vom Bayerischen Staatsorchester klangsatt und ohne Lärm gespielt wird, ist die Oper ein genialer Solitär der Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ja, das Thema ist schwierig. Aber das sollte keinen daran hindern, sich diesem faszinierenden Abend auszusetzen, der seine Botschaft des "Nie wieder!" in maximaler Eindringlichkeit vermittelt.
Ein paar Buhs für den Regisseur gab es in der enthusiastisch aufgenommenen Premiere übrigens auch. Was nicht schadet, denn zuviel harmonischer Konsens wäre bei diesem schwierigen Stoff verdächtig.
Wieder am 13., 16., 22. und 25. März sowie am 13. und 16. Juli. Karten unter www.staatsoper.de
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