"Matthäuspassion" in der Residenz: Christus wird Mensch

München - Vor dem Herkulessaal in der Residenz einige Verwirrung: Die Aufführung der "Matthäuspassion" von Johann Sebastian Bach, so informiert das Einlasspersonal, fände wegen eines Corona-Falls unter den Mitwirkenden ohne Publikum statt. Sie werde aber als Livestream übertragen.
Also rasch nach Hause und den Computer aufgeklappt: Der Chor und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks beginnen mit "Kommt, ihr Töchter" - allerdings ohne die angekündigten Augsburger Domsingknaben. Den traditionell von Knabenchören übertragenen Cantus firmus "O Lamm Gottes unschuldig" übernehmen - ohne musikalischen Verlust - Sopranistinnen aus dem BR-Chor.
Das Tempo ist schnell, der Puls fast tänzerisch
Simon Rattle, der designierte Chef beider Ensembles, dirigiert eine dezidiert dramatische, erzählende und bisweilen auch opernhafte Aufführung der Passion. Der Organist (Peter Kofler) hebt Schlüsselstellen durch das volle Werk seines Instruments hervor, das Tempo ist durchwegs schnell, der Puls fast tänzerisch. Aber im Unterschied zu vielen historisch informierten Aufführungen wirkt das nicht trocken oder gar dogmatisch, weil der Dirigent die bei vielen Bach-Interpreten verpönte Emotionalität nicht nur zulässt, sondern von den Mitwirkenden geradezu einfordert.

Das wird im Stream, wo Rattles Gesicht zu sehen ist, noch deutlicher. Verstärkt wird das noch durch die Solisten: Mark Padmore ist mehr noch wie in früheren Aufführungen ein mitleidender, mitfühlender und vom Passionsgeschehen bewegter Evangelist. Georg Nigl wird als Christus beim Abendmahl zornig, und wenn Judas ihn im Garten Gethsemane verrät, wirkt er menschlich zutiefst enttäuscht, obwohl er weiß, dass es so sein muss.
Gott ist in Jesus Christus auch Mensch geworden
Deutlicher hat kaum ein Sänger herausgebracht, dass Gott in Jesus Christus auch Mensch - mit allen seinen Widersprüchen - geworden ist. Und es ist als Verlebendigung nicht nur dramatisch, sondern auch theologisch interessant. Es nimmt Bachs Partitur nichts und fügt ihr eine Interpretation hinzu, die das Werk in jeder Hinsicht bereichert.
In ähnlicher Weise verschweigt Camilla Tilling nicht, dass "Ich will Dir mein Herze schenken" als Liebesarie auch in einer zeitgenössischen Oper stehen könnte. Magdalena Kožená singt die Alt-Arien ähnlich ausdrucksstark. Nur bei Roderick Williams, der am Ende bei "Mache dich, mein Herze, rein" ein wenig ins Schleudern geriet, stört die sehr helle Bariton-Stimme. Aber sie fügt sich bestens in den sehr hellen, bläserbetonten und transparenten Orchesterklang.
"Matthäuspassion" in der Isarphilharmonie abgesagt
Auch der Chor des Bayerischen Rundfunks kultiviert in dieser Aufführung soweit wie möglich dramatisch lichtes Strahlen. Rattle erlaubt sich auch ein paar unorthodoxe Romantizismen wie unbegleitete Choralstrophen, ein rumpelfreudiges Erdbeben und einmal auch ein herbstlich gedämpft gespieltes Orchesternachspiel einer Arie. Aber das alles dient dem Ausdruck, und je weiter diese grandiose Aufführung voranschreitet, umso mehr wächst das Bedauern, dass die beste, hinreißendste Vollblut-Aufführung der "Matthäuspassion" seit langem im leeren Herkulessaal stattfinden muss.
Die ursprünglich für den 22. November angekündigte Wiederholung der "Matthäuspassion" in der Isarphilharmonie wurde abgesagt, gekaufte Karten werden erstattet.