Martin Kušej inszeniert Tschechows "Iwanov" - die AZ-Kritik

Martin Kušej inszeniert am Bayerischen Staatsschauspiel Tschechows "Iwanow" - und versöhnt das Publikum erst sehr spät
Nach der Pause kamen fast alle Zuschauer wieder zurück. Das war nicht unbedingt zu erwarten, denn während des zweiten Akts hatte es im Parkett Aufruhr gegeben. „Lauter!“ hieß es immer wieder, denn Hausherr und Regisseur Martin Kušej lässt seinen „Iwanow“ über weite Strecken hinweg entlang an und gerne auch mal unterhalb der Hörbarkeitsgrenze spielen.
Wenn auf der Bühne des Residenztheaters dann gut vernehmbar ein Satz fällt wie „Ich verstehe das nicht“, ist das für ein genervtes Publikum eine Steilvorlage: „Wir auch nicht!“ kam es am Premierenabend vielstimmig und schlecht gelaunt aus dem Saal zurück.
Der Langeweile einer satten Gesellschaft dehnt sich
Kušej nimmt das Danebenleben, dieses Leiden an unerfüllten Sehnsüchten und den Schmerz, bestenfalls mittelmäßig an den eigenen Werten und Zielen zerbröselt zu sein, wie es Anton Tschechow mit seinen Dramen in Literatur goss, absolut ernst. Die Langeweile einer Gesellschaft, der es wirtschaftlich ganz ordentlich geht, die aber nichts mit sich anzufangen weiß, wird eins zu eins bebildert.
Bei der Geburtstagsparty für Sascha, die 20-jährige Tochter des Verwalters Lebedew, öden sich die Gäste oft lange schweigend an. Nicht einmal ein aufmunterndes „Weiter machen!“ aus dem Publikum hilft gegen die bleierne Lethargie.
Wer hat uns in die Welt hineingenarrt?
Am Anfang liest Iwanow Kierkegaard und gibt damit den Grundakkord aus existenziellen Fragezeichen vor: „Was will das besagen: Die Welt? Wer hat mich in das Ganze hineingenarrt und lässt mich nun da stehen? Wer bin ich?“
Nikolaj Alexejewitsch Iwanow lebt ein Leben zwischen Schwindsucht und Schwermut – seine Frau Anna (Sophie von Kessel), die aus Liebe zu ihm vom Judentum zum Christentum konvertierte und mit ihrer Familie brach, ist unheilbar krank. Das Geld, das sie in die Ehe einbrachte, ist aufgebraucht wie die Liebe zu Anna und die Sinnfrage steht übermächtig in dem zerfallenden Haus, in dem der Staub schon mehrere Zentimeter hoch steht (Bühne: Annette Murschetz).
Thomas Loibl spielt den Iwanow als Helden des Selbsthasses. Fast übermenschlich erscheint die Kraft zu sein, mit der er sich selbst aus seinen Dämmerzuständen reißt, nur um sich noch radikaler zu betrauern. Dann suhlt er sich geradezu in seinen Zweifeln. Nur für einen Moment scheint es, die Liebe zu Sascha könne ihn doch noch erlösen.
Nach dem Tod Annas wollen sie heiraten, doch die Hochzeitsfeier wird zum Desaster.
Das finale Fest im Hause Lebedew lässt Kušej beinahe locker abschnurren und vermittelt eine Ahnung davon, warum Tschechow das Stück ursprünglich als Komödie plante. Die Nachricht von der geplatzten Eheschließung macht die träge Truppe munter.
Doch anders als der farbenreiche Thomas Loibl bleiben die Gestalten seiner Umgebung das, was sie von Anfang an waren: Genija Rykova das liebenswerte und aufgeweckt kluge Mädchen Sascha, Oliver Nägele ist ihr stets besorgter Vater, der unter den Pantoffeln seiner Gattin (Juliane Köhler) steht, oder Till Firit als in Anna verliebter Hausarzt Lwow, der dem zynischen Tropf Iwanow nur mit hilflos bebendem Zorn begegnen kann.
Und doch bietet dieser lange Abend auch intensive Dialoge
Dennoch bietet der knapp dreieinhalbstündige Abend neben manchen Zähigkeiten auch dichte und intensive Dialoge. Am Ende machte das Premierenpublikum seinen Frieden mit der leisen Langsamkeit und dankte mit herzlichem Applaus. Mathias Hejny
Residenztheater, 8., 21., 30. Juni, 19.30 Uhr, 6., 16., 20. Juli, 19 Uhr, Telefon 21851940