Marlis Petersen über die Titelrolle in Alban Bergs "Lulu"
Alle ihre Liebhaber und Ehemänner, vom Medizinalrat über den „Gewaltmenschen“ Dr. Schön sterben, ehe sie selbst von Jack the Ripper aufgeschlitzt wird. Ab Pfingstmontag zeigt die Bayerische Staatsoper Alban Bergs „Lulu“ in Dmitri Tcherniakovs Neuinszenierung. Kirill Petrenko dirigiert die von Friedrich Cerha vervollständigte Fassung in drei Akten. Marlis Petersen singt die Titelpartie.
AZ: Frau Petersen, der Tierbändiger stellt Lulu im Prolog der Oper als „Urgestalt des Weibes“ vor. Was ist das für eine Figur?
MARLIS PETERSEN: Lulu ist ein junges Mädchen mit gebeuteltem Schicksal. Sie stand schon mit 12 auf der Straße und wanderte von einem Mann zum nächsten. Nur einen von ihnen Liebe – aber unglücklich.
Den Dr. Schön?
Ja. Er ist der einzige Mann, den Lulu liebt. Alle ihre Liebhaber wollen wissen, wie sie ist. Daran gehen sie zugrunde. Lulu ist aber nie so, wie die Männer sie haben wollen. Sie ist, wie sie ist. Und das ist undefinierbar.
Ist Lulu eine Männerfantasie?
Sie ist eine verlockende und attraktive Frau. Man möchte sie festhalten, aber sie schwuppt einem immer wieder weg. Und natürlich ist sie eine Projektion männlicher Wünsche.
Ist sie eine Femme fatale?
Nein. Lulu ist am Beginn der Opernhandlung 15 Jahre alt – ein pubertäres Etwas. Sie ist für Männer gefährlich, weil sie weiß, wie sie mit ihrer Sexualität umgeht. Aber auf keine schöne Art und Weise. Sie ist keine Versucherin aus Absicht. Und männermordend ist sie auch nicht.
Aber sie erschießt Dr. Schön.
Es ist eine Frage, ob ich absichtlich jemanden erschieße oder in einer großen Bedrängnis. Medea bringt auch nicht ihr Kinder um, weil sie die nicht mehr mag. Man muss sich fragen, wie es zu diesem Moment kommt. Da wird es interessant, nicht bei der Tat selbst.
Ist die Figur nach mehreren sexuellen Revolutionen nicht anachronistisch geworden?
Ich finde die Oper aktueller denn je. Auch heute haben wir noch ein verkorkstes Verhältnis zur Sexualität. Wir dürfen Gefühle nicht zeigen und stehen unter Druck. Von solchen Neurosen handelt „Lulu“ – keine schöne Oper zum Zurücklehnen und Genießen.
Wie sieht der Regisseur Dmitri Tcherniakov die Lulu?
Dass sie erst 15 ist, interessiert ihn weniger. Für ihn geht es um die Beziehung zwischen Mann und Frau an sich. Lulu ist aller anderen Beziehungen müde. Sie kann nicht mehr und möchte nur mit Dr. Schön zusammen sein. Aber auch diese Beziehung scheitert.
Das erste Bild des dritten Akts ist seit seiner Vollendung durch Friedrich Cerha nicht unumstritten. Zuletzt wurde es öfter weggelassen. Muss es sein?
Für mich gehört das Paris-Bild unbedingt zu der Geschichte. Im dritten Akt vollendet sich alles, was zuvor angelegt wurde. In Paris scheitert Lulu an einer Welt der Nichtigkeiten. Jeder bedroht sie und will ein Stück Fleisch von ihr. Diese Bedrohung begründet die Flucht nach London und damit das Ende durch Jack the Ripper.
Wie merkt man sich die Musik?
Alban Berg singt sich recht flüssig. Denn jede Figur der Oper hat eine eigene Zwölftonreihe. Wenn ich die lerne, vorwärts, rückwärts, im Krebsgang und in der Krebs-Umkehrung, habe ich die Partie gut beieinander. Das ist der Trick.
Sie stehen fast die ganze Zeit auf der Bühne.
Nur im ersten Akt, in der Szene zwischen dem Maler und Dr. Schön ist Lulu fünf Minuten weg, und dann noch einmal 12 Minuten beim großen Zwischenspiel im zweiten Akt.
Wie erholen Sie sich davon?
Indem ich nicht nachdenke und sonst normal lebe.
Ihre wievielte Lulu ist das?
Meine neunte. Ich habe meine erste Lulu vor 19 Jahren in Nürnberg gesungen – allerdings nur den ersten Akt, weil in der Inszenierung von Annegret Ritzel die Figur auf drei Sängerinnen aufgeteilt war. Schon damals war ich so fasziniert, dass ich auch die restlichen Akte gelernt habe.
Und wann kommt die zehnte?
Noch heuer an der Metropolitan Opera in New York. William Kentridge inszeniert, James Levine dirigiert.
Premiere am Montag, 18 Uhr, fast ausverkauft Karten für spätere Vorstellungen: Telefon 2185 1920
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