"Marat/Sade" von Peter Weiss in Tina Laniks Regie

Ein bisserl Aufruhr darf schon sein. Jean-Paul Marat gleitet in einem letzten und extemporierten Monolog von Paris im Juli 1793 in den Münchner Mai des Jahres 2018, als mehr als 20 000 Demonstranten gegen die fragwürdige Ausweitung der Polizei-Befugnisse beim Gefährder-Fangen sowie ganz generell den „Söderalismus“ auf die Straße gingen.
Da regt sich hinten im Parkett des Residenztheaters Widerstand. Ein Zuschauer ruft „Ich kann das Gejammer nicht mehr hören“. Der Mann ist, um es auf gut französisch zu sagen, ein Agent provocateur und gehört zum Ensemble.
Am Premierenabend meldeten sich im Staatstheater-Publikum nur wenige, um den Zwischenrufer zur Mäßigung zu bewegen und dem charmanten Revoluzzer zu applaudieren. Auch Regisseurin Tina Lanik verteilt ihre Sympathien eindeutig auf die Titelhelden von „Marat / Sade“.
Wie Nils Strunk den Marat spielt, ist er die Zukunft, würde er nicht ermordet werden. Er hat einen Plan, ist jung und sieht gut aus. Das alles gilt auch für seine Mörderin. Lilith Häßle verleiht Charlotte Corday, der Klosterschülerin mit der Mission, die Welt von einem Massenmörder zu befreien, eine erfrischende Frechheit.
Marats Gegenspieler aber ist Donatien Alphonse François de Sade. Einst war er ein Mitkämpfer für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Heute ist er ein alter Sack mit fettig verfilztem Haar und einer gewaltigen Plautze, die meist nackt über die schmuddelige Unterhose schwappt.
Die große Ratlosigkeit
Charlotte Schwab spielt die Lethargie des von jeder Illusion befreiten Ex-Revolutionärs mit einer verblüffenden Mischung aus existenzieller Bitterkeit und losgelöster Nonchalance. Die Regisseurin entscheidet sich zwar einerseits für den tätigen Revolutionär, aber Tina Lanik empfindet den Widerspruch zwischen Erneuerung und der Gewalt ihrer Umsetzung stärker als der Autor Peter Weiss. Mit ihrer Inszenierung thematisiert sie vor allem die Ratlosigkeit ihrer Generation. Was „Marat / Sade“ zum Stück zur Zeit macht, ist die Schwäche, die sich Lanik leistet. Mal etwas linkisch, mal mit trotziger Robustheit unterläuft sie die raffinierte Eleganz des formen- und stimmenreichen Diskurses, den Weiss 1964 mit der Verve des kampfeslustigen Visionärs aufschrieb.
Das Dilemma zwischen der Notwendigkeit, die Welt besser zu machen und die Selbstverständlichkeit, mit der Gewalt und Diktatur als Instrumente des revolutionären Prozesses gelten, lässt sich in Notizen von Peter Weiss nachlesen, die in die Spielfassung montiert wurden. Da schreckte der bekennende Marxist auch vor biologistischem Unfug nicht zurück: „Privatbesitz gibt es nicht in der Natur. Wer hungrig ist, nimmt sich, was er braucht, und wenn er schwach ist, wird er vom Stärkeren erledigt.“ So ähnlich hätte das auch in einer Ertüchtigungsfibel für die Hitler-Jugend stehen können.
Schauplatz ist eine Heilanstalt, in der der theaterbegeisterte Marquis von Patienten viele Jahre nach der Ermordung Marats das Ereignis aufführen lässt. Lanik bleibt weniger konkret und lässt Bühnenbildner Stefan Hageneier einen Raum aus Versatzstücken wie für eine Probebühne bauen. Die Last, das irre Treiben als theatralen Vorgang zu verfremden, liegt fast ausschließlich auf dem mit Zylinder, Uniformjacke und Strapsen grotesk kostümierten Ausrufer. Das macht Michele Cuciuffo so gut, dass Marat und de Sade in die Gefahr geraten, an die bunten Wände gespielt zu werden.
Wieder am 1. und 22. Oktober, 19.30 Uhr und im November