Mal keine Performance - "Rocco und seine Brüder" in der Kammer 1

„Rocco und seine Brüder“ nach dem Film von Luchino Visconti in den Kammerspielen
Michael Stadler |
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Wieviel Zeit sich doch das Kino des Neorealismus genommen hat: für das Leben und Feiern, aber auch Leiden und Morden, wie man es etwa in Luchino Viscontis „Rocco und seine Brüder“ sieht. Drei Stunden dauert dieses Epos über die Familie Parondi, Witwe Rosaria und ihre vier Söhne, die Anfang der 60er aus dem armen Süden nach Mailand ziehen, wo sich der fünfte Sohn Vincenzo verloben will. Doch seine Verwandtschaft stört das Fest. Die Parondis fliegen allesamt raus und müssen nach einer Wohnung und nach Arbeit suchen, gestrandet in der Fremde, wie es auch heutige Exilanten erleben.

Abwechslung für Performance-Verächter im Schauspielhaus

In den Kammerspielen kann man diesen Beginn in einem Tempo sehen, als ob das Theater mal kurz zeigen will, dass es mühelos schneller als das Kino erzählen kann. Da wird die schlechte Nachricht vom Tod des Vaters überbracht. Da stehen die Parondis – zack! – mit Taschen, Kühlbox und Kram in der Bühnenmitte: ein Bild, dass an die Ankunft der Geflüchteten am Münchner Hauptbahnhof erinnert. Und sie wundern sich, als sie – zack! – Vincenzo, dessen zukünftiger Braut und deren Eltern begegnen.

Diese Geschwindigkeit, sowohl der Szenenwechsel als auch der Szenen selbst, behält die Inszenierung des Australiers Simon Stone durchgehend bei. Er und sein Team katapultieren die Handlung aus dem Jahr 1960 in die dahinbrausende Jetztzeit mit ihren digitalen Spielereien, multikulturellen Identitäten und „Ey-Fuck-Shit-Mann“-Jugend/Proll/Alltagssprechs. Von wegen sanft modernisiert. Hier wird einem die Heutigkeit um die Ohren geknallt, dass es zunächst aufgeblasen wirkt: Ja klar, die Familie um „Mama“ Wiebke Puls hat ihr Kommen mit Nachrichten auf WhatsApp, iMessage, Email angekündigt, „da waren zwei blaue Häkchen“, was heißt, das Vincenzo die Botschaft gelesen haben muss.

Wenn aber der famose Stefan Merki als Hotelier vom cholerischen Parondi-Sohn Simone sein Handy zerdeppert bekommt und den Tod seines „iPhone 6s!“ beklagt oder Vincenzo (Franz Rogowski) mit seinem Date Nadia ins Kino geht, um sich den derzeitigen Matt-Damon-Kracher „The Martian“ anzuschauen – und Matt Damon ist ja in diesem Film ein Exilant auf dem Mars, ebenfalls völlig lost in space –, dann nimmt die Inszenierung ihren Aktualitäts-Anspruch (hoffentlich) selbst auf die Schippe.

Man muss Alain Delon nicht kopieren

Während Christian Löber als Ciro im anständigen Job und schön hasplig bei der Liebe landet, finden sich Simone und Rocco im Boxring wieder, der schon bei Visconti als Existenzkampf-Metapher funktionierte. Mit der Bulligkeit von Film-Simone Renato Salvatori nimmt es Ensemble-Neuzugang Samouil Stoyanov locker auf, wobei er mit Ösi-Slang und Bauch einem Uli-Seidl-Film entsprungen zu sein scheint. Der Naivität und Grazie, die Alain Delon einst wie von selbst besaß, kann wohl keiner mehr nachkommen. Muss auch nicht: Thomas Hauser ist ein körperdurchlässig-entspannter Rocco, so einer dieser Typen, dem der Sex zufliegt, ohne dass er auf schüchtern oder Angeber machen muss.

Wer befürchtet hat, dass unter Matthias Lilienthal keine Rollen mehr gespielt werden, wird bei dieser vierten Spielzeit-Premiere beruhigt: Mit diesem „Rocco“ spielt eine Farbe ins Spektrum hinein, die als Abwechslung zu den potentiell spannenden Performance-Gelagen willkommen ist: smartes Theater, mit Darstellern, die sich in Figuren reinschrauben, jeder auf seine Weise. Die Prostituierte Nadia, die sich bei allem Selbstbewusstsein schinden lassen muss, verliebt in Rocco, aber in Besitz genommen von Simone, ist nicht unbedingt eine dankbare Rolle.

Aber Brigitte Hobmeier macht was Tolles draus, verführt in Stones’ Version gleich drei Brüder im Handumdrehen, ist mal verrucht, mal zärtlich, rotzt später ihre Verletztheit so raus, dass es einem in der Herzgegend zieht. Bis sie Simone so reizt, dass er sie umbringt. Nach dem Mord fährt der Boxring hoch in den Bühnenhimmel, ein Sandsack fährt gleichzeitig herunter, was ein monumentales Bild von Sex und Macht und finaler Einsamkeit gibt.
Der Jüngste der Brüder, Luca (Johannes Geller), boxt noch gegen die Desillusionierung durch das Leben und die anderen an. Einen rasanten Hit hat das neue Ensemble mit dieser Inszenierung gelandet.

Kammer 1, 20., 24., 27., 30.10.; 3., 14., 25.11., 20 Uhr, Karten Telefon 233 966 00

 

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