"Machinede Cirque" auf dem Tollwood: Blicke, die an Körpern kleben

Da stehen sie gut verteilt auf der Bühne im Tollwood-Zelt Grand Chapiteau, frontal zum Publikum und seitlich, blicken jeweils auf etwas, das sich vor ihnen befindet. Dabei bedarf es nur kleiner Bewegungen, ein kurzes Schräghalten des Kopfes zum Beispiel, damit klar wird: Die achtköpfige Truppe, die sich hier versammelt hat, um zu gucken und vor allem die Blicke auf sich zu ziehen, befindet sich in einer Galerie.
"La Galerie" heißt denn auch der Titel der Show; es ist die zweite, welche die in Québec ansässige Compagnie Machine de Cirque beim Tollwood-Festival präsentiert. Nachdem die Kanadier in den ersten Tollwood-Wochen die nach ihnen benannte Produktion "Machine de Cirque" aufführten und dabei ein famoses Endzeit-Szenario hinwirbelten, nehmen sie sich nun, in anderer Besetzung, die alltägliche Situation in einem musealen Raum vor, um sie ebenso ins Phantastische ausufern zu lassen.
Wahre Kunst entzieht sich dem einfachen Verstehen
So entwickelt sich aus der zunächst ruhigen Bildbetrachtung, stimmungsvoll von der fabelhaften Allround-Musikerin Lyne Goulet am Saxofon untermalt, eine elegant fließende Choreografie, bei der die Truppe erste Ausflüge in die Luft unternimmt, sich gegenseitig fliegen lässt und zu einer Gruppe verschmilzt, die gemeinsam das Bewegungsrepertoire eines Galeriebesuchs durchspielt: (unsichtbares) Gemälde mustern, den Kopf kurz kippen, etwas zurückweichen, sich wieder annähern, einen Seitenblick auf das (unsichtbare) Schild neben dem Bild werfen, ein langgezogenes "Aaaahhh!" des Kapierens ausstoßen, um dann den Zirkel von Unverständnis und Begreifen von vorne zu beginnen.
Wahre Kunst entzieht sich nun mal dem einfachen Verstehen, verlangt nach mehrmaligem Hinschauen und lässt sich doch nicht eindeutig entschlüsseln. Die Artistik wirkt da auf den ersten Blick einfacher, weil konkreter, aber nimmt gerade bei dieser Produktion für sich in Anspruch, ebenfalls eine große Kunst zu sein. Wovon man sich gerne überzeugen lässt, so virtuos vermischen sie ihre Fähigkeiten zu artistischen Gemälden. Ob sie sich nun in die Teilnehmer einer Auktion verwandeln und sich in ihren Kunststücken gegenseitig überbieten oder zu dritt, zu viert, zu fünft die Keulen wirbeln lassen - die Acht schaffen aufregende Wimmelbilder, die natürlich weitgehend geplant und durchkomponiert sind.
Die Produktion gibt es schon seit einigen Jahren, aber gerade Museen standen ja zuletzt besonders im Scheinwerferlicht. Wenn die zwei Artistinnen und fünf Artisten mit schwarzen Absperrbändern den Raum immer wieder aufs Neue strukturieren, sich Grenzen setzen, um sie selbst leichtfüßig, mit Drehungen in der Luft zu überwinden, könnte einem kurz die "Letzte Generation" in den Sinn kommen, wobei hier nicht Körper an Bildern, sondern Zuschauerblicke an spektakulären Einlagen kleben bleiben.
Zwischendurch sind sie "Nachts im Museum", die artistischen Glanzstücke können dank Taschenlampenlichts fortgesetzt werden. Das Rhönrad dreht sich mitsamt dem Artisten in ihm, und sie üben sich weiter in einer, etwas redundanten, Stapelkunst, die nicht nur der Kraft, sondern vor allem einer fantastischen Gewichtsbalance bedarf. Es reicht ja eigentlich schon, wenn einer auf den Schultern des anderen steht, aber dann muss auch noch eine dritte auf den zweiten drauf, als ob es sowas wie Höhenangst und Überladung nicht gäbe. Und bekommt der ganz unten auf Dauer nicht Plattfüße?
Wenn die Gruppe abrutscht, dann in den Klamauk
Wer gerne Fußballspiele anschaut, weil dort immer wieder durchtrainierte Körper dramatisch zu Boden fallen, kommt in dieser Show ebenfalls auf seine Kosten. Wenn die aufgetürmten Drei zum Beispiel abstürzen, fliegen sie gradlinig bis in die Diagonale, wobei der Fall der obersten Artistin vom "russischen Barren" abgefedert wird. Die lange elastische Stange, die sich auch zum Stabhochsprung eignet, nutzen sie mit der Eleganz von Seiltänzern für eindrückliche Demonstrationen ihres Gleichgewichtsinns und Sprünge, bei denen sie Gott sei Dank auch wieder auf dem Barren landen.
Wenn die Gruppe abrutscht, dann in den Klamauk: Ein altmeisterlich arrangiertes Festmahl bestreiten sie mit Zirkus-Popcorn und inszenieren ein gieriges Gelage, bei dem ein Staubsauger eine eher unappetitliche Rolle spielt. Die Kulinarik geht da bewusst flöten, aber ein Teil des Publikums spürt ja sowieso noch den wesentlich edleren Hauptgang des 4-Gänge-Menüs von Holger Stromberg im Magen.
Die Kunst lebt nun mal auch vom Trash, vom Chaos und vom Zufall. Mit farbbeschmierten Körpern in Bewegung lässt sich ein Drip-Painting malen, dass sich durchaus hübsch auf einer Galeriewand macht. Zwei aus der Truppe treten dafür zum Finale den Beweis an, was ja vielleicht auch als Anregung zu verstehen ist: Mag sich der Großteil der Aktionen von Machine de Cirque für die Nachahmung zu Hause nicht eignen (Vorsicht, lieber nicht!), könnte man so ein Gemälde mit Körperfarbe ja durchaus wagen.
Tollwood, Grand Chapiteau, bis 31. Dezember, Termine und Reservierung unter www.tollwood.de