Lustvoll mitreißend - "Die Rocky Horror Show" in der AZ-Kritik
Was ist die Aufgabe, der „Rocky Horror Show“? Das Spießbürgertum sexuell schock-rocken! Das war im Sommer 1973 am Royal Court Theatre noch einfacher als heute, wo der schrill-regenbogenfarbene CSD schon zur bürgerlichen Stadtfolklore gehört und in einem niederbayerischen Landkreis auch ein junger, schwuler, protestantischer Sozi zum Landrat gewählt werden kann.
Aber dann legt sie los, Richard O’ Brien’s „Rocky Horror Show“, und man ist wieder sofort elektrisiert, vor allem, weil der Live-Effekt unschlagbar ist: auf der Bühne, aber hier vor allem auch im Publikum!
Selten erlebt man einen enthusiastischer enthemmten Zuschauerraum. Die Lebens-Aufforderung von Frank’n’Furter – „Don’t dream it, be it!“ – gelingt zumindest als Anti-Alltag für wunderbare zwei Stunden. Dazu trägt auch die „Mitspieltüte“ bei, die viele Münchner aus den Museum Lichtspielen kennen, wo die Kinoversion von 1975 ein Guinnessbuch-geehrter Dauerbrenner ist. Im Deutschen Theater kann man sie in der Luxusversion zum Wucherpreis von 13,10 Euro erstehen. Dafür aber ist sie eine echte Mitspiel-Tasche mit „Rocky Horror“-Schriftzug und Logo. Manches ist drin, inklusive neon leuchtenden Plastikstabs, Knarr-Ratsche und Konfetti.
Das Deutsche Theater riskiert unspießig viel, nicht nur zulasten der Putzkolonne. Denn wer nicht vergessen hatte, die Plastikpistolen in der Theatertoilette zwischen den vielen Spaß-Transvestiten der Premiere mit Wasser zu füllen, spritzte kräftig ab. Viele hielten sich– wie Janet auf der Bühne nach der Autopanne – eine Zeitung aus der Mitspieltasche als Schutz über den Kopf. Allerdings die falsche!
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Begeisterungssturm, Mitmach-Orgie und ein Himmelfahrtskommando
Und dass Toilettenpaper-Werfen „ganzer Rollen“ im Programmheft untersagt wird, wurde spielfreudig vom Publikum ignoriert, auch wenn die dazu passende Mullbinden-Enthüllung des Muskelmannes „Rocky“ auf der Bühne unverständlicherweise weggelassen wurde. Dieser Muckibuden- und Anabolika-Retortensprößling ohne Intellektualität ist in unseren Selbst-Optimierungszeiten sogar aktuell zeitkritischer als er es in den Flower-Power-Entstehungszeiten des Musicals war.
Bei allem Trash-Spaß und aller Albernheit ist die „Rocky Horror Show“ aber auch ein fantastisches Dechiffrierungsvergnügen. Niemals war Dr. Scott als durchgeknallter „deutscher“ Wissenschaftler „Dr. Seltsam“ aus Stanley Kubricks Film besser zu erleben, mit Charles Bunton, der auch die Rock’n’Roll-Legende Eddie spielte. Und weil die Bühnen-Inszenierung sich noch einige Zusatz-Gags erlaubt, wird er wie in Hitchcocks Horror „Psycho“ hinter einem Duschvorhang erstochen, während Brad und Janet das kredenzte Phallus-Eis aus dem Laborkühlfach lutschen – und vielleicht schon ahnen, dass sie sexuell nicht mehr jungfräulich durch diese Nacht kommen werden.
Hier läuft Rob Fowler als Frank’n’Furter zu Schattenspiel-Hochform auf, wenn er einen Zungen-Triller-Fellatio und Cunnilingus hinlegt, dass das Publikum schallend lachend zu Spontan-Applaus ausbricht. Rob Fowler ist der Abräumer, der das Publikum als Animator um den Finger wickelt und dirigiert zu Mitmach- und Begeisterungs-Orgien.
Sky Du Mont dagegen hat hier einen Himmelfahrtskommando-Job. Denn es gehört zum „Rocky-Horror“-Ritual für die eingeweihte Gemeinde, dass „der Erzähler“ mit „Boring“-Rufen bedacht wird. Diese Publikums-„Angriffe“ durch „Langweilig!“-Zwischenrufe kontert der charmant seriöse Star aber witzig: „Sagt ihre Frau das auch, wenn Sie ins Schlafzimmer kommen?“ Und weil manche im Premieren-Publikum den Ausbuh-Ritus nicht kenn, kommt es gleichzeitig zu sympathischer Solidaritäts-Unruhe mit Sky Du Mont.
Eine der berührendsten Szenen gelingt bei der Abschieds-Show, wenn Frank’n’Furter entmachtet ist. Im Film liegt er im warmen Pool, hier umspielt ihn flirrend wogend – wie in einer Josephine-Baker-20er-Jahreshow – ein Straußenfedermeer.
Und wenn am Ende seine Erotisierungs-Mission gescheitert ist, erklingt der wehmütige „I’m going home“-Song. Aber damit nicht Rührungs- und Abschiedstränen bleiben, gibt es noch Zugaben mit der rockigen Liveband: „Let’s do the Time Warp again!“
Und Frank, las Dir sagen: Deine Befreiungsmission ist nicht gescheitert: Nicht nur Brad und Janet haben von „verbotenen Früchten“ genascht und „Blut geleckt“. Auch wir Zuschauer sind verzaubert worden!
Deutsches Theater, bis 21. März und wieder für eine Woche im August (4. – 8.8.), Karten Telefon 54 81 81 81, 29 – 69 Euro
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