Livecam-Performance am Resi: Ehrlich im Rampenlicht

München - Die Kamera hält zunächst mal höflich Abstand. Schließlich ist die betagte Dame, die auf die Bühne des Marstalls von der Seite aus sowieso schon etwas verhalten auftritt, kein versierter Bühnen- oder Filmprofi, sondern, eben, eine Dame von 85 Jahren, die ein bisschen aus ihrem Leben erzählen wird. Die Kamera zeigt sie und das karge Szenario - ein Stuhl, ein Tisch, dahinter ein blauer Vorhang - in respektvoller Entfernung von der Seite. Einmal dreht die Kamera einen Halbkreis um die Sprechende, zeigt sie dann eben von der anderen Seite. Die Bewegung entsteht vor allem in der Erzählung.
Gerda heißt die Dame und dank der unaufdringlichen Profilansicht hat sie die Chance, beim Reden auch mal von der Kamera wegzuschauen, nachzudenken - um sich dann wieder dem per Videokonferenz zugeschalteten Publikum zuzuwenden. Sie sieht die Kamera; ihre Zuschauer aber nicht. Die müssen, um sie wiederum zu sehen, frontal in ihre Webcams blicken und dürfen sich von den anderen Besuchern beobachtet fühlen; es sei denn, man klickt sein eigenes Video-Bild weg.
Theater im Lockdown - fertig proben und auf Halde legen
Ach, dieses elende Dauersehen- und Dauergesehen-Werden in den Zoom-Kästchen! Doch es bleibt dabei: Im Lockdown können die Theater nicht viel mehr tun, als die geplanten Produktionen intern fertig zu proben und auf Halde zu legen, während sie ein paar Premieren online stattfinden lassen. Weil das Meckern über die Drögheit von gestreamten Live-Cam-Performances und Bühnenmitschnitten sich auch schon ausleiert, kann man es zwischendurch positiv finden, dass einem eine Schauspielerin wie Juliane Köhler gleich drei Monologe, wie der Amazon-Bote die Pakete, direkt ins Haus liefert.
Die holländische Autorin Lot Vekemans lässt in ihrem Stück "Niemand wartet auf dich" zuerst Gerda auftreten, dann eine Politikerin namens Ida, dann eine Schauspielerin. Alle drei reflektieren darüber, welche Verantwortung sie in dieser konfliktbeladenen Welt übernehmen können, alle drei sollen von derselben Schauspielerin gespielt werden. Juliane Köhler schafft es dabei auf Anhieb, ihrer Gerda Konturen zu verleihen. Das Outfit, beiger Pulli, brauner Rock, und eine grauhaarige Perücke mögen bei der Einfühlung helfen, aber Köhler gibt ihrer Figur eine Betulichkeit und gelegentliche Strenge, wie man es vielleicht von der eigenen Oma her kennt. Oder ist das auch schon wieder ein Stereotyp?
Jedenfalls hat die aufrechte Gerda eine späte Lebensaufgabe darin gefunden, den Müll in ihrer Nachbarschaft aufzusammeln, weshalb sie bei ihren Ausflügen nach draußen stets eine Plastiktüte dabei hat und farbige Spülhandschuhe trägt. Was etwas skurril klingt: Da leistet eine ihren Beitrag für eine sauberere Umgebung, aber macht sich doch etwas überpenibel zum handschuhbunten Schießhund.
Als ein Jugendlicher eine Zigarettenpackung vor ihren Augen auf den Boden wirft, macht das Gerda wütend, ja, beim Erinnern regt sie sich gleich noch mal auf! Am gleichen Tag findet sie in einer Bücherei, wie zum Trost, ein kleines Buch mit dem seltsamen Titel "Niemand wartet auf dich". Das Büchlein zieht sich leitmotivisch durch Lotmans Stück und beeinflusst auch die Gedanken der Politikerin Ida, in die sich Köhler nach einer kleinen Kamerafahrt mittels dunkelhaariger Perücke, dunklem Anzug und Make-up vor einem Garderobenspiegel verwandelt.
Politikerin und Performerin
Ein schöner Einfall: Die Nähe der Politikerin zur Performerin wird hier augenscheinlich, übt Ida doch vor dem Spiegel den Anfang ihrer Rede ein, feilt noch ein wenig am Ausdruck. Dann tritt sie vor die Kamera und erklärt in einer angedeuteten Pressekonferenz ihren Rücktritt. Auch sie ist also eine, die Verantwortung übernimmt, die sich als Sündenbock sogar für die Partei opfert, obwohl sie den Moment des Abschieds auch ganz eigennützig dafür verwendet, sich über die Erwartungen der anderen zu beschweren. Wie soll sie ständig wissen, was zu tun ist? Was für eine Last überträgt man da eigentlich auf die Politiker?
Nicht nur vom Mut, das Heft selbst in die Hand zu nehmen, erzählen die drei Damen, sondern auch von ihrem Scheitern und der Notwendigkeit, loslassen zu können. Die alte Gerda gibt in Sachen Krieg und Hungersnöte die Verantwortung an Gott und die Welt ab; Ida will ein Plädoyer für die Schuld und die Verletzlichkeit aller Menschen halten und gibt ihr Amt ab, dessen Anforderungen sie unmöglich erfüllen kann. Und die Schauspielerin, die Juliane Köhler am Ende, natürlich profi-frontal zur Kamera, gibt, zweifelt an der Wirksamkeit ihres Berufes, hofft auf ein verantwortungsbewusstes "Wir". Und hat die Grübelei satt. "Ich denke, dass alles meine Angelegenheit ist. Das macht einen völlig fertig!"
Es heißt also: Ruhig durchatmen. Vielleicht auch einfach mal schlafen. Für die Durchführung dieser finalen Aufforderung ans Online-Publikum lässt die Inszenierung von Daniela Kranz aber ein bisschen wenig Zeit. Und letztlich ist auch diese Live-Cam-Performance vor allem eine schnörkellos gefilmte Darbietung des Textes. Aber die Stücke von Lot Vekemans, von "Gift" über "Schwester von" bis hin zu "Judas", bedürfen auch kaum der szenischen Effekte.
Mit ihrer leicht zugänglichen Sprache, den nachvollziehbaren Gedankengängen ihrer Figuren nimmt sie in der Regel mit, wenngleich dieses Stück mit seinen lose verbundenen Monologen nicht ihr stärkstes ist. Ehrenwert ist das Unterfangen jedoch allemal, wie immer bei Vekemans: Sie übernimmt, könnte man sagen, Verantwortung für (literarische) Figuren, die außerhalb des Rampenlichts stehen, gibt ihnen eine Stimme, schenkt ihnen Aufmerksamkeit. Die 85-jährige Gerda ist so ein Fall; die Politikerin und Schauspielerin dürfen hier endlich mal Klartext sprechen. Und Juliane Köhler erweckt sie für eine Stunde zum Leben.
Für die ausverkauften Vorstellungen am Mittwoch, 27., und Sonntag, 31. Januar, 19 Uhr, gibt es jetzt noch zusätzliche Live-Streams. Der Vorverkauf dazu startet am heutigen Montag, 10 Uhr, unter: www.residenztheater.de. Tickets ab 15 Euro. Im Anschluss an die Zoom-Vorführung gibt es ein Nachgespräch mit Juliane Köhler