Kritik

Trotz Stimmverlust bei der Premiere: "Les Misérables" wird am Gärtnerplatztheater umjubelt

Josef E. Köpplinger inszeniert das Musical "Les Misérables" am Gärtnerplatztheater, es ist die Münchner Erstaufführung.
Julia Wohlgeschaffen
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Alexander Franzen (Thénardier) und Dagmar Hellberg (Madame Thénardier) spielen ein skrupelloses Wirtspaar.
Alexander Franzen (Thénardier) und Dagmar Hellberg (Madame Thénardier) spielen ein skrupelloses Wirtspaar. © Edyta Dufaj

Es ist das erste Mal, dass das Musical "Les Misérables" in München zu sehen ist, die Aufführungsrechte zu bekommen, ist kompliziert. Und ausgerechnet bei der Premiere der Neuproduktion am Gärtnerplatztheater geschieht am Freitagabend ein Malheur: Hauptdarsteller Armin Kahl, der den Sträfling Jean Valjean spielt, verliert während der Vorstellung seine Stimme.

Das Publikum bekommt davon allerdings kaum etwas mit. Es gelingt, diese Panne gekonnt zu überspielen: So beschränkt sich Kahl nach wenigen Minuten auf das Spielen, während Filippo Strocchi, die Zweitbesetzung, unbemerkt Kahl hinter den Kulissen seine Stimme leiht. Intendant und Regisseur Josef E. Köpplinger betritt daher nach dem ersten Akt die Bühne und deckt diese Notlösung auf, Kahl und Strocchi ernten anerkennenden Applaus. Nach der Pause ersetzt Strocchi dann Kahl auch auf der Bühne.

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Jean Valjean ist ein Mann, der nach einer langen Haftstrafe wieder frei ist und nur auf Ablehnung bei seinen Mitmenschen stößt. Dass seine Stimme zu Beginn brüchig klang, war zwar Kahls Erkrankung geschuldet, hatte aber den unverhofft stimmigen Effekt, dass die Figur noch verzweifelter wirkt.

Einige Jahre später - auf der Bühne sind es nur wenige Szenen später - hat sich Valjean eine bürgerliche Existenz aufgebaut, als Fabrikbesitzer und Bürgermeister. Seine Stimme - nun die von Strocchi - ist jetzt gefestigt, passend zur Entwicklung der Figur.

Die Studenten Marius (Florian Peters, links), und Enjolras (Merlin Fargel, rechts oben) mit Jean Valjean (Armin Kahl, Mitte) in der Nacht vor dem Barrikadenkampf.
Die Studenten Marius (Florian Peters, links), und Enjolras (Merlin Fargel, rechts oben) mit Jean Valjean (Armin Kahl, Mitte) in der Nacht vor dem Barrikadenkampf. © Markus Tordik

Les Misérables ist ein durchkomponiertes Werk ohne Dialoge, und auch Josef E. Köpplinger hat seine - der Handlung entsprechend dunkel-düstere - Inszenierung durchkomponiert. Sie ist im Fluss, es gibt keine Lichtpausen, keine abrupten Szenenwechsel, alles geht ineinander über. Das ist in Anbetracht der ohnehin Konzentration erfordernden, vielsträngigen Handlung eine angenehme Entlastung für das Auge.

"Les Misérables" - nach dem Roman von Victor Hugo - spielt im Frankreich des 19. Jahrhunderts und zeigt mit den Lebenswelten der verschiedenen Figuren ein umfassendes Gesellschaftspanorama. Der Barrikadenkampf im Rahmen des Juniaufstands 1832 in den Pariser Straßen mit vielen Hundert Toten spielt dabei eine zentrale Rolle.

Untypisch und auffällig ist, dass sich der sonst so detailverliebte Regisseur ausgesprochen zurückhält und die Sänger teilweise alleine vor schwarzem Hintergrund, nur umgeben von Nebelschwaden auf der leeren Bühne singen lässt. Zu Beginn verzichtet er gänzlich auf Requisiten, die Häftlinge deuten das schwere Schuften nur an, im Hintergrund steht ein karges Treppengerüst.

Das kennt man von Köpplinger eher nicht. Doch er hat mit seinem reduzierten Ansatz bei dieser Produktion das richtige Gespür. Einerseits kommt dadurch die grandiose Besetzung besonders zur Geltung. Andererseits besteht wegen der inhaltlichen Fülle des Musicals immer die Gefahr, eine Aufführung zu überladen.

Im Musical wechselt ständig der Handlungsort, etwa vom Kloster zur Fabrik und weiter zur Barrikade und in die Abwasserkanäle. Köpplinger löst das durch den Einsatz der Drehbühne, beschränkt sich auf wenige Kulissen, etwa das Gasthaus der Thénardiers. Alexander Franzen und Dagmar Hellberg spielen das berechnend-skrupellose Wirtspaar, das seinen Gästen allerlei Ungenießbarkeiten mit Ekel-Effekt auftischt, herrlich überzeichnet. So sorgen sie kurzzeitig für erleichternde Komik in der tragischen Handlung - kurz zuvor stirbt Fantine im Krankenbett, ergreifend gespielt von Wietske van Tongeren.

Wietske van Tongeren als Fantine mit Armin Kahl als Jean Valjean.
Wietske van Tongeren als Fantine mit Armin Kahl als Jean Valjean. © Ludwig Olah

In solchen leisen Momenten, in denen die Sänger ihre Sätze nur hauchen, setzt Dirigent Koen Schoots auf einen zart-zurückhaltenden Klang im Orchestergraben. Das gelingt auch durch den durchweg hervorragend eingestellten Ton (Tibor Adamecz). Die lebendigeren, klanggewaltigeren Stücke wie "Morgen schon", als die Aufständischen den Entschluss zum Barrikadenkampf fassen, spielt das Orchester expressiv. Wenn Polizeiinspektor Javert (Daniel Gutmann) mit seinem kernigem Timbre abseits der Bühne singt, hallt es unaufdringlich wie aus der Ferne.

Gutmann ist neben Julia Sturzlbaum, die Valjeans Ziehtochter Cosette spielt, einer der Genre-Springer am Gärtnerplatztheater. Die Zwei gehören zum festen Ensemble und beweisen, dass sie nicht nur die Kunst der klassischen Arien beherrschen - Sturzlbaum zeigte zuletzt eine umwerfende Christel im Vogelhändler. Sie können ihre Stimme auch an die Anforderungen eines Musicals anpassen. Gutmann präsentiert darüber hinaus auch verblüffende Stunts, die ganz zu Köpplingers Realismus passen, den er im zweiten Akt aufleben lässt.

Die Studenten fassen den Entschluss zum Barrikadenkampf.
Die Studenten fassen den Entschluss zum Barrikadenkampf. © Ludwig Olah

Dann spritzt beim Barrikadenkampf das Blut in Fontänen über die Bühne bis kaum einer der - großartig singenden - Studenten das Massaker überlebt. Köpplinger richtet die Barrikade so aus, dass das Publikum keine Angreifer sieht. Die Zuschauer harren mit den Studenten hinter dem aus Schränken, Leitern und Rädern erbauten Schutzwall aus und geraten selbst in die Schusslinie.

"Les Misérables" ist dank des erstklassigen Ensembles und der feinsinnigen Inszenierung ein berührendes Theatererlebnis. Das lange Warten auf die Münchner Erstaufführung hat sich gelohnt.

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