Lea Ruckpaul über "Prima Facie"

Dieser Monolog trifft offenbar den Nerv unserer Zeit: "Prima Facie" der australisch-britischen Dramatikerin Suzie Miller wurde 2019 in Sydney uraufgeführt, gewann mehrere Preise, landete 2022 am Londoner Westend, 2023 am Broadway. Zuletzt war das Stück verstärkt im deutschsprachigen Raum zu sehen, in Bern, Wien, Berlin, Hannover und Düsseldorf. Im Zentrum steht eine Strafverteidigerin, die auf Fälle sexueller Gewalt spezialisiert ist - bis sie selbst von einem Kollegen vergewaltigt wird und vor Gericht zieht. Lea Ruckpaul spielt das Solo nun im Residenztheater, Nora Schlocker hat inszeniert.
AZ: Frau Ruckpaul, einen Monolog auf der großen Bühne des Residenztheaters zu spielen, ist vermutlich eine besondere Herausforderung.
LEA RUCKPAUL: Ja, auf jeden Fall. Zunächst mal muss ich diese Masse an Text lernen und auf die Bühne stellen. Und dann verschwört man sich ja normalerweise mit den Kolleginnen und Kollegen auf der Bühne, macht sich untereinander Angebote, gibt sich gegenseitig Energie. Das fällt nun natürlich weg.
Die Strafverteidigerin Tessa begibt sich ebenfalls in eine große Einsamkeit, als sie beschließt, sich gegen den Übergriff ihres Kollegen zu wehren und ihn wegen Vergewaltigung vor Gericht anzuklagen.
Ich finde, ihre Einsamkeit beginnt schon früher, als sie sich entscheidet, aus dem Arbeitermilieu, in dem sie aufgewachsen ist, auszubrechen und auf die Law School zu gehen. In dieser Welt der Juristen, in der vor allem Kinder reicher Eltern sind, gehört sie nicht dazu; gleichzeitig fühlt sie sich in ihrer Familie nicht mehr wohl. Eine meiner Lieblingsszenen ist die, in der Tessa nach Hause zu ihrer Mutter und ihren Brüdern fährt und ihr erneut klar wird, dass sie sich dort fremd fühlt.
Als Strafverteidigerin erweist sie sich besonders gewieft darin, Männer zu verteidigen, die wegen sexueller Übergriffe angeklagt wurden. Ihr Erfolg rührt dabei auch daher, dass sie selbst eine Frau ist.
Ja, für ihre Karriere hat sie sich angepasst. Sie ist sogar überangepasst - ein "Girlboss", also eine Frau, die innerhalb des patriarchalischen Systems eine Meisterin geworden ist und das "männliche" Machtspiel sogar besser als manche Männer beherrscht.
Was sie nicht unbedingt sympathisch macht.
Nein, ich versuche auch, sie zunächst möglichst unsympathisch zu spielen. Sie ist schon sehr arrogant, auch gegenüber ihren Kollegen.
Im Gegensatz zu denen soll sie aber mit den Frauen vor Gericht ganz verträglich umgehen.
Das sagt sie selbst von sich. Aber es gibt eine Frau, Jenna, die Tessa im Verhör schon richtig fertig macht. Der stellt sie solche Fragen wie: "Äh, Sie selbst haben gesagt, sie hätten dabei geholfen, ihre Kleider auszuziehen?" Und zählt dann auf, was Jenna alles an dem Abend getrunken hat. Es geht stets darum, die Frauen zu diskreditieren. Das ganze System ist darauf ausgerichtet, die Opfer zu retraumatisieren.
Indem sie vor Gericht noch mal erzählen müssen, was ihnen geschehen ist.
Ja. Als Tessa später selbst vor Gericht ausgefragt wird, muss sie feststellen, dass sie sich an bestimmte Details der Vergewaltigung nicht mehr erinnern kann, weil es eben auch eine traumatisierende Situation war. Die Verteidigung setzt genau darauf: die Glaubwürdigkeit der Anklägerinnen zu torpedieren, indem immer wieder nach solchen Details gefragt wird.
Die Situation, in der Tessa später steckt, ist ziemlich speziell: Mit einem Kollegen hat sie im Büro zunächst einvernehmlichen Sex, eine Liebesbeziehung bahnt sich zwischen den beiden an. Dann vergewaltigt er sie bei einem weiteren Treffen bei ihr zu Hause.

So "speziell" ist das nicht, das ist doch vielmehr der Regelfall! Die sexuell gewalttätigen Männer befinden sich meistens im direkten Umfeld der Frauen. Es sind die Väter, die Onkel, Brüder, Partner, Ex-Partner. Seit 1997 gilt nicht einvernehmlicher Geschlechtsverkehr in der Ehe als Vergewaltigung - diese Jahreszahl habe ich extra in den Text eingebaut. Wir müssen uns bewusst machen, dass sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen in der Mitte unserer Gesellschaft stattfinden!
Dabei könnte man annehmen, dass heute einiges anders ist.
Der Diskurs über Sexismus und sexuelle Gewalt ist sicherlich offener geworden. Aber ansonsten hat sich eher wenig verändert. Eine der schönsten Begegnungen, die ich in der letzten Zeit hatte, war mit Schülerinnen aus einem Mädchengymnasium, die wir zu einem Probenbesuch eingeladen hatten. Danach haben wir uns mit ihnen ausgetauscht und wollten unter anderem von ihnen wissen, ob sie selbst auch schon Erfahrungen mit Sexismus gemacht haben. Meine Hoffnung war, dass sie sagen würden, naja, das ist heute alles nicht mehr so schlimm. Aber das war überhaupt nicht so.
Sondern?
Eine erzählte zum Beispiel, wie sie in der Bahn saß und von älteren Jungs dumm angemacht wurde. Sie senkte den Blick, hatte Angst und traute sich nicht, sich zu wehren, weil sie wusste, dass die Jungs stärker als sie waren. Genau da fängt es an. Als Mädchen lernst du, dass du deine Klappe halten musst, weil du keine Macht hast. Da spielt auch der Klassismus, der im Stück steckt, hinein: Wenn jemand aus einer wohlhabenden Familie kommt, einen höheren Bildungsgrad, ein anderes Selbstbewusstsein hat, wird man vielleicht auf die Idee kommen, sich gerichtlich gegen sexuelle Übergriffe zu wehren. Die Frauen aber, die diese Möglichkeiten nicht haben, halten das lieber aus.

Was lässt sich dagegen unternehmen?
Im Stück gibt es ganz klar den Vorschlag, die Rechtsprechung zu reformieren. Solange die Gesetze von denen gemacht werden, die sowieso die Macht haben, wird es keine Gerechtigkeit geben. Wenn für die Gesetzgebung aber Menschen zuständig sind, die auch die unterlegene Position kennen, wird sich vielleicht etwas ändern. Wie Tessa im Stück dürfen wir da einfach nicht lockerlassen.
Tessa erlebt eine Läuterung: von der arroganten Strafverteidigerin hin zum Opfer, das mutig vor Gericht zieht, auch wenn ihre Aussichten, den Prozess zu gewinnen, gering sind.
Ja, das ist ein klassischer Erzählbogen, das Stück ist schon ein typisches well-made-play. Als Intendant Andreas Beck mir vorschlug, es zu spielen, dachte ich mir ehrlich gesagt: Oh nein, nicht schon wieder dieses Thema. Ich habe gerade einen Roman geschrieben, der auch in diese Richtung geht!
Um was geht es in dem Buch?
Es trägt den Titel "Bye bye Lolita" und ist eine Antwort auf den Klassiker von Nabokov, geschrieben aus der Perspektive von Lolita. Es geht vor allem darum, wie man als Mädchen dazu erzogen wird, alles Mögliche zu ertragen; dass man lernen muss, sich richtig zu wehren. Den Stoff habe ich schon lange im Kopf. Im letzten Jahr habe ich das Buch endlich geschrieben, im Herbst kommt es heraus. Seit ich Theater spiele, hat mich das beschäftigt: dass ich auf eine Bühne gehe und dabei immer als Frau gelesen werde. Was ja auch im Alltag so ist. Dieses Gefängnis ist ständig spürbar und es braucht viel Kraft, um sich da irgendwie herauszudenken.

Sie waren in Leipzig auf der Schauspielschule. Waren diese schematischen Rollenmuster dort stark spürbar?
Klar. Damals war das noch viel heftiger als heute. Jetzt wird darüber wenigstens diskutiert. Ich unterrichte an der Theaterakademie August Everding, vor kurzem hat eine meiner Studentinnen einen Monolog aus Thomas Köcks Klimatrilogie vorgespielt. Wir haben bei den Proben keine Sekunde darüber nachgedacht, ob das eine Männer- oder Frauenfigur ist. Es ging uns nicht um das Geschlecht, sondern um den Inhalt! Ich selbst habe hier am Residenztheater in "Peer Gynt" den Knopfgießer gespielt - als ein geschlechtsloses Wesen, was ich als sehr befreiend empfunden habe.
Gerade das Theater sollte wohl ein Ort sein, wo es diese Freiheit gibt.
Ja! Es geht doch im Theater darum, im Spiel alle möglichen Situationen und Geschlechter zu durchqueren und nicht irgendwelche Geschlechterbilder zu reproduzieren. Oft gibt es dieses Narrativ der missbrauchten, gequälten Frau, die durch ihr Leiden transformiert wird - was ich hoch problematisch finde. De facto ist es doch so, dass dir das Leben oft um die Ohren fliegt und du nicht gestärkt daraus hervorgehst. Stattdessen wäre es besser, wenn du den ganzen Mist nie erlebt hättest.

Geht denn Tessa aus dem Prozess gestärkt hervor?
Ich versuche, am Ende gar nicht mehr so viel zu spielen, sondern ihren Gedankengang zu beschreiben und den Zuschauerinnen und Zuschauern zu überlassen.
Damit sie nicht mit einer einfachen Antwort nach Hause gehen können.
Ja. Das Stück hat schon eine sehr eindeutige Antwort parat, mit einer großen Rede am Schluss. Ich möchte das am Ende ein bisschen zerfasern lassen. Der Hoffnungsschimmer liegt für mich darin, dass sich trotz aller Hindernisse etwas verändern lässt. Daran müssen wir glauben.
Die Premiere heute um 19.30 Uhr im Residenztheater, ist ausverkauft. Weitere Vorstellungen am 13. und 20. März.