Lauter nette Liberale

Anton Tschechows "Der Kirschgarten", inszeniert von Nicolas Stemann an den Kammerspielen.
von  Robert Braunmüller
Ilse Ritter und Julia Riedler.
Ilse Ritter und Julia Riedler. © Thomas Aurin

München - Rechts zwei junge Zuschauer, eine Ökobrause in der Hand, die jeden Stolperer auf der Bühne mit homerischem Gekicher feiern. Hinter mir ein schlecht gelauntes Alt-Abonnentenpaar, das sich bei den regelmäßig zum Himmel krachenden Baumstämmen fragt, ob die wirklich aus Kirschholz seien: "Das ist doch Hartholz, oder?"

Anton Tschechow soll sich beklagt haben, dass die Zuschauer bei seinen Komödien zu wenig lachen. Die Jugend holte das im neuen „Kirschgarten“ der Kammerspiele stellvertretend für einige Theatergenerationen nach.

Mit echtem Holz und "Götterdämmerung" hart am Text

Hätten die beiden Alten etwas neugieriger hingeschaut, wäre ihnen nicht entgangen, dass der Regisseur Nicolas Stemann auf eine grundsolide Weise hart am Text bleibt. Nur das melancholisch-sanfte Abendlicht, in dem nach Rudolf Noelte zuletzt noch Peter Stein inszenierte, hat er brutal ausgeknipst.

Aus Tschechow wurde keine Jelinek-Textfläche. Man spricht zwar in Mikrofone, aber die Figuren sind intakt. Mit sanfter Verfremdung: Die 72-jährige Ilse Ritter erinnert als Ranjewskaja an die schrille Komponisten-Tochter Yvonne Kálmán. Warum nicht? Ein Hauch von tragischer Operette umschwebt diesen Schmetterling. Und dann steht ausgerechnet „Wotan“ auf ihrem Shirt. Auch da ist für den wagnerianisch vorgebildeten Zuschauer was dran: Götterdämmerung, Resignation und ein uneingestandenes Wissen um das nahe Ende: das eigene und das der Gesellschaft, in der sie lebt.

Jüngere Zuschauer mit anderen Seh-Erfahrungen werden da andere Assoziationen haben. Aber gewiss keine falschen: Dafür ist die Inszenierung zu genau gearbeitet. Und natürlich läuft Ilse Ritter als Veteranin des realistischen Stils auch noch als lebendes Symbol vergangener Größe und Theatergeschichte über die Bühne.

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In ähnlicher Weise spielt auch ein klassischer roter Theatervorhang mit, der bisweilen den kahlen offenen Raum (Kathrin Nottrodt) intim verschmälert. Stemann hat das Alter vieler Figuren gegenüber dem Text verschoben. Anja (Julia Riedler) könnte die Tochter ihrer älteren Bühnenschwester Warja (Annette Paulmann) sein. Peter Brombachers Lopachin ist fast ein Greis. Aber er wirkt auf eine schwer greifbare Weise im Kostüm, Sprechen und der Haltung als ehrlicher, erfolgreicher Kaufmann und Pragmatiker: Und das ist jenseits seiner Jahre die Essenz der Figur. Gleiches gilt für Daniel Lommatzschs Gajew, der als Mittdreißiger schlecht ein Bruder der uralten Ranjewskaja sein kann: Dieser aasige Flegel ist am Ende des Stücks in der Finanzbranche wirklich perfekt aufgehoben.

Wenn schon im Leben das biologische Alter keine Rolle mehr spielt, wieso sollte es das auf der Bühne tun? Die untergründigen Liebesgeschichten gehen trotzdem auf. Alle Chargen dieses Stücks sind exzellent – etwa Damian Rebgetz als metrosexueller Neurotiker Jascha.

Es spielt nicht die geringste Rolle, ob sie auf der guten alten Schauspielschule waren oder ihr Engagement einem performativen oder sonstigen Hintergrund verdanken. Tschechow wirkt integrierend. Und ein paar Herrschaften schließt man langsam ins Herz wie das alte Ensemble.

Hobmeiers großer Auftritt nach der Pause

Brigitte Hobmeier hat als Gouvernante nach der Pause einen großen Auftritt: Als paranormal begabte Hippie-Schwester von Wedekinds Lulu darf sie die Handlung der ersten beiden Akte zusammensetzen. Ein Kabinettstück. Dann wird dieser „Kirschgarten“ politischer: Lauter nette, aber zu jeder Entschlossenheit ungeeignete Liberale taumeln blind ihrem sicheren Untergang entgegen.

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Tschechows Zeitdiagnose aus dem vorrevolutionären Russland hält einem da in Stemanns Inszenierung den Spiegel vor. Das letzte Wort hat, wie immer, der Diener Firs. Der ist auch nicht 87, sondern eher ein Mittzwanziger. Samouil Stoyanow wirkt erst wie ein charmanter österreichischer Operettenkellner. Aber bekanntlich sind alle unsere Nachbarn nicht mehr so nett: Zuletzt steigert er sich in eine neurechte Tirade hinein, für die Stemann nur das verstreute Gebrabbel von Firs bei Tschechow zusammenkehren musste.

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Es ist ein etwas wohlfeiler Schluss. Aber einer, der auch gruseln lässt. Von Krise mag man nach dieser Aufführung der Kammerspiele nicht mehr reden. Stemann macht Tschechow ohne viel Firlefanz zum Zeitgenossen. Eine Aufführung für alle, die gerafft haben, dass die Stimmung bei dieser Tragikomödie nicht das Entscheidende ist.

Sondern die Menschen. So weit müssten doch alle Theatergänger sein.

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