Kritik: So ist Feuchtwangers "Wartesaal" in den Kammerspielen

Ein Abend nach Lion Feuchtwanger: In den Münchner Kammerspielen macht Stefan Pucher "Wartesaal" zu einem Schauspielerfest. Die AZ-Kritik.
Mathias Hejny |
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Das schwierige Leben im Exil, dargestellt von Stefan Merki, Peter Brombacher und Annette Paulmann .
Arno Declair Das schwierige Leben im Exil, dargestellt von Stefan Merki, Peter Brombacher und Annette Paulmann .

Lion Feuchtwanger beobachtete und beschrieb den Nationalsozialismus mit seinen Folgen schon während der 1930er-Jahre nicht nur beunruhigend visionär, sondern leitete daraus bereits eine Kritik an der Theorie der Schwarmintelligenz ab. Jahrzehnte, bevor dieses Phänomen beschrieben und so bezeichnet wurde, schrieb er dem jungen Schriftsteller Harry Meisel, einer der zahlreichen Figuren im Roman "Exil", die Bemerkung in den Mund, die Menschen würden je dümmer, desto mehr man von ihnen zusammenbringe.

Nur wenige Generationen später ist die Lage immerhin schon wieder so weit, dass die Frage akut wird: Was tun mit den Rechten? Deren Paranoia vor politischen Flüchtlingen ist das eine, Rassismus und ideologischer Terror als eine Ursache von Emigration das andere. Feuchtwangers "Exil" aus dem Zyklus "Der Wartesaal" für die Bühne zuzubereiten ist deshalb für einen Theaterregisseur wie Stefan Pucher, der seine Stoffe gerne in der Belletristik sucht, eine clevere Wahl.

Erzählt wird von Deutschen, die vor den Nazis nach Paris flohen, und von Nazis, die sich dort wie Gott in Frankreich fühlen. Seine in den Kammerspielen unter dem Titel "Wartesaal" uraufgeführte Fassung zeigt viel Respekt vor der Vorlage: Feuchtwanger schaue "tiefer in die Figuren hinein, als diese Figuren selber in sich hineingucken", erklärt Pucher in einem Programmheftbeitrag bewundernd. Konsequenterweise ist seine Inszenierung eine szenische Rezitation, die überwiegend kurzweilig bleibt. Die luzide Sprache Feuchtwangers möbliert fast behaglich die Wartehalle, die Bühnenbildnerin Barbara Ehnes ausgesucht scheußlich grünlich kacheln ließ.

Julia Riedler brilliert in einer Dreifachrolle

Ein zweiter und fahrbarer Guckkasten in halber Höhe ist mal die Redaktion des Emigrantenblattes "Pariser Nachrichten" und mal die Bleibe seiner Edelfeder Sepp Trautwein und seiner Frau Anna (Maja Beckmann). Zum lebendigen Literaturvortrag gehören die Schauwerte des Livekinos. Manche Szenen spielen hinter einer nicht ganz heruntergefahrenen Wand, die den Sprechern die Köpfe abschneidet. Die werden in großformatige Nahaufnahme projiziert und vermitteln das Geschehen auf der Bühne als berührend brüchige Wahrnehmung.

Aber es spielt keine Rolle, ob die 15 Darsteller in ihren 23 Rollen in Schwarzweiß von der Projektionsfläche flimmern oder in Natur zu sehen sind: Sie feiern ein Schauspielerfest. Annette Paulmann, zum Beispiel, ist ein nicht lustiger Conférencier von empathischer und unerschütterlicher Konzentration mit schlohweißem Haar in Mauve. Den Redakteur Sepp Trautwein, der eigentlich ein Komponist ist, siedelt Samouil Stoyanov mit ernstzunehmender Explosivität und bebender Körperlichkeit im Komikerfach an.

Julia Riedler brilliert in Dreifachbelastung: Sie ist nicht nur der oben erwähnte Literat, sondern auch Frau Benjamin, die mit entwaffnender Koketterie berichtet, wie sie ihren jüdischen Gatten mit einem Nazi betrügt, und ist als ebenso elegante wie selbstbewusste Pariser Kunstgaleristin Lea de Chassefierre zum Niederknien. Vieles gerät auch zur Karikatur, aber wenn Jochen Noch den Spitznamen "Nilpferd" des NS-Offiziers Heydebregg maliziös mitspielt, fällt fast gar nicht mehr auf, wie sehr sich Stefan Pucher auf die flache Modellhaftigkeit seines Personals beschränkt.


Münchner Kammerspiele, Kammer 1, wieder am 2., 3., 30. Dezember, 18 Uhr, 21., 29. Dezember, 19 Uhr, Karten: Tel. 23396600

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