Kluge-Abend in den Kammerspielen: Wie man eine Revue repariert

München - Alexander Kluge ist nicht zu fassen: Der 90-Jährige mit Wohnsitz in Schwabing ist gelernter Rechtsanwalt, gehört zu den wichtigsten Regisseuren des Neuen Deutschen Films, ist ein einflussreicher Philosoph und entwickelte zusammen mit Oskar Negt die Frankfurter Schule weiter oder infizierte, wenn auch weitgehend folgenlos, als Autor und Produzent das Privatfernsehen mit Intellekt, als es noch in den Kinderschuhen steckte.
"Der Gedanke von Reparatur und die Möglichkeit, Dinge zu retten, beschäftigt uns"
Mit Sendungen wie "News & Stories" machte er Lust auf das geistige Abenteuer. Kluge erfand Filmtitel wie "In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod" oder "Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos". Dieser Film aus dem Jahr 1968 bildet das dramatische Grundgerüst für "Wer immer hofft, stirbt singend", das am heutigen Samstag im Schauspielhaus uraufgeführt wird.
AZ: Herr Gockel, Sie entwickeln das Stück seit einigen Monaten aus Alexander Kluges Texten. Findet das aktuelle Geschehen in Osteuropa schon darin Platz?
JAN-CHRISTOPH GOCKEL: Muss. Man kann sich als Künstler nicht nicht dazu verhalten, erst recht, wenn man politisches Theater machen will. Die Frage ist, welche Rolle die Kunst in dieser Flut aus Bildern, Informationen und Emotionen hat. Natürlich war alles schon lange vorher geplant, aber der Untertitel heißt "Reparatur einer Revue", und dieser Gedanke von Reparatur und die Möglichkeit, Dinge zu retten und wiederherzustellen, hat uns die ganze Zeit über beschäftigt. Das hat jetzt, mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, eine neue Aufladung bekommen und wir haben uns dem neu gestellt. Aber die Bombenentschärfer aus dem Film "Die Patriotin" kamen vorher schon vor. Und wir hatten die ganze Zeit über schon eine Bombe auf der Bühne und haben uns gefragt, ob es möglich ist, sie vor dem Aufschlag noch zu entschärfen.
"Wie soll man auch einen Kluge-Film adaptieren?"
Der Titel "Wer immer hofft, stirbt singend" liest sich sehr klugisch. Woher haben Sie den Satz?
Es gibt eine Geschichte über einen Antoine Billot. Das ist ein Mann, der alle Katastrophen, die ihm begegnen, überlebt. Das ist so ein Kluge-Ding. Die erste Katastrophe ist ein Zugunglück und alle sind tot, aber Billot hat überlebt. Seine Überlebensgeschichte zieht sich fast durch ein Jahrhundert. Die Geschichte heißt "Wer immer hofft, stirbt singend". Wir hatten noch diskutiert, ob der Abend "Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos" heißen soll, weil der Film unsere Vorlage ist, aber es ist keine Filmadaption. Wie soll man auch einen Kluge-Film adaptieren? Aber die Figuren und überhaupt der Zirkus spielen eine große Rolle.
Inwiefern?
Es ist eine Zirkusrevue. Wir haben an diesem Abend sehr viele Zirkuselemente: Seiltänzer, Feuerspucker, Tiere, denn der Puppenbauer Michael Pietsch hat einen Elefanten gebaut, und die "Reparatur" ist fast eine Reform, die das Überthema auch des Films ist. Leni Peickert, die den Zirkus von ihrem Vater erbt, will einen Reformzirkus aufbauen. Sie will einen modernen Zirkus, weil sie Zirkus liebt. Einen wissenschaftlichen Zirkus, der die Tiere nicht dressiert, sondern authentisch zeigt. Für Leni Peickert wird es eine Geschichte des Scheiterns. Sie ist "ratlos" - aber ratlos ist kein negativer Begriff, sondern diese Ratlosigkeit setzt Suchbewegungen in Gang.
Dem Trend zur Untergangserzählung eine andere Möglichkeit entgegensetzen
Und was musste "repariert" werden?
Ich wollte ursprünglich etwas Dystopisches machen wie bei "Eure Paläste sind leer", denn diese apokalyptischen Welten faszinieren mich sehr. Aber schon lange vor dem Krieg in der Ukraine wollte ich versuchen, dem Trend zur Untergangserzählung eine andere Möglichkeit entgegenzusetzen. Bei Kluge gibt es Geschichten über glückliche Enden, die extrem unwahrscheinlich sind. Bei "Othello", zum Beispiel, könnte es so sein, dass im fünften Akt Emilia so heftig an der Tür klopft, dass Othello von Desdemona ablässt, zur Tür geht, Emilia fragt, was sie will und dadurch die Energie für den Mord verliert - eine "Abrüstung des fünften Akts".
Kluge liebt den Zirkus, ist ein profunder Opernkenner, hat an der Kinogeschichte mitgeschrieben, aber mit dem gesprochenen Wort auf der Bühne fremdelte er immer. Wie machen Sie Kluge theaterkompatibel?
Es gibt sehr viele unterschiedliche Zugänge, wie Kluges Texte auf der Bühne lebendig werden - Hörspiel, Livevideo, Interviews. Wichtig finde ich: Man muss Kluge überhaupt nicht kennen, um an dem Theaterabend teilhaben zu können. Es ist auch eine Zirkusshow mit allem, was auch hinter den Kulissen stattfindet.
Gockel über Kluge: "Ein Kooperationskünstler und gleichzeitig sein eigener Kosmos"
Wie fanden Sie und Alexander Kluge zusammen?
Ich lese seine Geschichten seit Jahren, weil ich diese Denkweise so toll finde. Manche seiner Gedanken und Texte haben es schon in Abende von mir hinein geschafft. Er findet Verbindungen, "Maulwurfstunnel", zwischen sehr unterschiedlichen Kosmen. Ganz fantastisch! Beim ersten Treffen sagte er mir: "Meine Texte sind ja nicht dramatisch. Und im Film kann ich eine Decke einstürzen lassen. Wie wollen Sie das denn machen?" Zum Glück hatte ich eine von Michael Pietschs Puppen dabei, legte sie auf den Tisch und bedeckte sie mit Zetteln und Büchern. Kluge schaute sich den Puppenkörper an und sagte: "Das können Sie machen, Herr Gockel, das geht".
Es scheint, als könne man gut mit ihm zusammenarbeiten.
Er ist ein Kooperationskünstler und gleichzeitig sein eigener Kosmos. Mit 90 interessiert er sich immer noch für das, was Leute meiner Generation machen. Er spricht von der "Senkung der Ich-Schwelle". Dabei geht es nicht um das Auflösen in ein Uns, sondern schon darum, seine eigene Position zu vertreten. Aber sein Ansatz ist: "Wir können unterschiedlicher Meinung sein. Das ist völlig in Ordnung".
Kammerspiele, Premiere am Samstag, 20 Uhr, im April wieder am 10. und 29., 20 Uhr, Karten unter Telefon 233 966 00