Kammerspiele: Die Frauen- und die Klassenfrage

Felicitas Brucker inszeniert in den Kammerspielen Ibsens "Nora" und Èdouard Louis' "Die Freiheit einer Frau".
von  Mathias Hejny
Die bürgerlichen Verhältnisse stehen samt dem Haus auf dem Kopf: Vincent Redetzki und Katharina Bach in "Nora".
Die bürgerlichen Verhältnisse stehen samt dem Haus auf dem Kopf: Vincent Redetzki und Katharina Bach in "Nora". © Armin Smailovic

Beim Double Feature im Kino kam seinerzeit erst der oft kürzere und mit geringem Budget produzierte B-Film, dann das aufwändiger gedrehte A-Movie. Beim aktuellen Double Feature der Kammerspiele läuft der A-Film als erstes und der B-Film - der nur auf den ersten Blick die wenig wertvollere Produktion zu sein scheint - kommt nach der Pause. Beide sind von Felicitas Brucker inszeniert, aber rein visuell ist der Gegensatz größtmöglich.

Der Familie Helmer im populären Ibsen-Klassiker "Nora" spendierte Ausstatterin Viva Schudt ein stattliches "Herrenhaus". Es ist freilich nicht perfekt, denn es steht kopfüber auf der Bühne. Im zweiten Teil, der Bearbeitung von Édouard Louis' im vorigen Jahr erschienenen Romans "Die Freiheit einer Frau", ist der Bühnenraum für den in prekären Verhältnissen aufwachsende Eddy, seine nicht immer mütterliche Mutter und den meist betrunkenen Vater auf einen schmalen Streifen vor dem geschlossenen Eisernen Vorhang beschränkt.

Ein Doppelabend mit Sinn

Die nächsten Vorstellungen sind zwar einzeln angesetzt, aber der viereinhalbstündige Doppelabend macht Sinn. Es ist ganz erstaunlich, wie die Schicksale der norwegischen Advokatengattin Nora im späten 19. Jahrhundert und der nordfranzösischen Arbeiterfrau Monique zur Jahrtausendwende, von der der Sohn erzählt, sich über die Generationen und Nationen hinweg die Hände reichen. Felicitas Brucker stellt nicht nur die Frauenfrage, sondern auch die Klassenfrage und wirft einen Blick auf die vielschichtigen Zusammenhänge zwischen beiden.

Die wird schon in der Ansprache der Männer an ihre Partnerinnen hörbar. Noras Liebster flötet gönnerhaft "Meine kleine, süße Lerche", Moniques Kerl lallt aggressiv "Du fette Kuh". Beide Frauen sind abhängig von ihren Ehemännern und eine Veränderung der Lage bedeutet bei Ibsen den sicheren sozialen Abstieg.

Katharina Bach, Edmund Telgenkämper und Thomas Schmauser in "Die Freiheit einer Frau".
Katharina Bach, Edmund Telgenkämper und Thomas Schmauser in "Die Freiheit einer Frau". © Armin Smailovic

Bei Louis hat es zunächst den Anschein, es gehe ohnehin nicht tiefer. Monique erlebt aber so etwas wie ein Happyend. Zwar bleibt sie wirtschaftlich unselbstständig, doch sie lebt mit einem Hausmeister in einem guten Pariser Viertel, auch wenn sie die anderen Frauen in der Gegend ihre Herkunft spüren lassen.

Genussvolles Spiel mit den Stilmitteln des Horrorfilms

Was Nora geschieht, wenn sie Mann und Kinder verlassen hat, bleibt im Original offen. Elfriede Jelinek gab ihr in einer Nora-Überschreibung von 1977 einen Job in einer Fabrik. Brucker erzählt nun einen "Thriller". Die Regisseurin spielt genussvoll mit Stilmitteln des Horrorfilms und schon bei Ibsen gibt es eine Frist, die schicksalhaft heruntertickt: Noch drei Tage bis ihr Kreditbetrug, durch den sie heimlich die Heilung des erkrankten Mannes Torvald ermöglichte, auffliegt.

In der neuen Münchner Fassung, an der Sivan Ben Yishai, Gerhild Steinbuch und Ivna Žic mitschrieben, lässt Nora das Haus in Flammen aufgehen. "Was für ein Mensch, die alles niederbrennt, werden sie sagen", teilt sie dem Publikum vor der einer gigantischen Video-Feuersbrunst mit. "Aber was für ein Mensch wäre das, deren Geschichte nur vom Aufgeben erzählt?"

Eine solche Geschichte vom Nicht-Aufgeben erzählt auch der Text von Édouard Louis, der im Zusammenhang mit der zornigen Nora die deprimierenden Erkenntnis fördert, dass sich in den letzten 140 Jahren nichts Wesentliches geändert hat.

Das ist ein Fest für die fünf Schauspielerinnen und Schauspieler, allen voran Katharina Bach als eine Nora, die eine Metamorphose von der süßen Lerche zum Gothic-Horror-Todesvogel durchläuft. Edmund Telgenkämper ist ein Torvald Helmer von musterhaft jovialer Bräsigkeit, die jedoch nie einfach nur ausgestellt wirkt. Svetlana Belesova verleiht ihrer Frau Linde eine ungewöhnliche Stärke und Entschlossenheit.

Thomas Schmauser ist ein zwischen Existenzangst und bedrohlicher Dämonie getriebener Krogstadt. Ein bewegendes Solo hat Vincent Redetzki als Doktor Rank, das die Einsamkeit des todkranken Freund des Hauses fast körperlich spüren lässt. Im zweiten Teil des Abend ist das Trio Bach, Schmauser und Telgenkämper wechselweise und mit überwältigender Spiellust das gesamte Personal des Mutter-Sohn-Sozialdramas.

Münchner Kammerspiele, "Die Freiheit einer Frau": 19. Oktober, 3., 19., 25. November, 20 Uhr, "Nora": 16. Oktober, 13. November, 19 Uhr, 29. Oktober, 7. November, 19.30 Uhr, 30. November, 20 Uhr, Telefon 089 23396600

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.