Kritik

Jochen Busse vergisst als Pflegebedürftiger seinen Text und rettet sich durch Improvisation

Die aufregende Premiere von "Weiße Turnschuhe" in der Komödie im Bayerischen Hof
von  Anne Fritsch
Jochen Busse (hier mit Simone Pfennig) spielt einen älteren Herrn, der angeblich pflegebedürftig ist.
Jochen Busse (hier mit Simone Pfennig) spielt einen älteren Herrn, der angeblich pflegebedürftig ist. © Jennifer Zumbusch

Manchmal sind es die ungeplanten Momente, die, in denen eigentlich gar nichts läuft, wie es soll, in denen ein Theaterabend sein Publikum wirklich kriegt. In denen er nicht nur amüsiert, sondern berührt. In denen der Zauber des Theaters aufscheint, das eine Kunst von Menschen für Menschen ist, live, mit vollem Risiko, hervorgebracht im Augenblick der Rezeption.

Einen solchen Moment durfte das Premierenpublikum am Donnerstag in der Komödie im Bayerischen Hof miterleben. Gezeigt wurde René Heinersdorffs "Weiße Turnschuhe", eine Steilvorlage für einen älteren beziehungsweise nicht mehr ganz so jungen Schauspieler, der den topfitten Rentner Günther spielen darf.

Jochen Busse in "Weiße Turnschuhe".
Jochen Busse in "Weiße Turnschuhe". © Jennifer Zumbusch

Eine Paraderolle für Jochen Busse

Der hat vier Ehefrauen überlebt und verbringt seine Tage damit, zu trainieren und seinem sehr viel jüngeren Nachbarn Max wie seinem Sohn Kai zu zeigen, wo der Bartl den Most holt beziehungsweise, wie schnell sich das "Matterhorn" aka seine Wohnung im fünften Stock erklimmen lässt. Seine Turnschuhe bleiben auch nach ausgedehnten Joggingrunden im Englischen Garten immer weiß, weil er jede Pfütze und jeden Bach einfach überspringt.

Weil sein Sohn aber nicht nur sportlich eine Niete ist, sondern offenbar auch in finanziellen Dingen, ist guter Rat teuer. Kai hat das Mietshaus in der Prinzregentenstraße, das Günther einen sportlich-entspannten Ruhestand sichern sollte, für windige Projektideen verzockt.

Alles Geld ist futsch, Günther soll es richten. Indem er der Gutachterin von der Krankenkasse vorspielt, er sei pflegebedürftig, und das Geld von der Pflegeversicherung alles ins Lot bringt. Und schon klingelt es, Frau Weber von der Erfurter Versicherung kommt, die Farce beginnt. Breizeit statt Freizeit.

Jochen Busse und Simone Pfennig in "Weiße Turnschuhe".
Jochen Busse und Simone Pfennig in "Weiße Turnschuhe". © Jennifer Zumbusch

Eine schlagfertige Show

Urs Schleiff hat das Stück inszeniert, für die Hauptrolle konnte er Jochen Busse gewinnen, der nur so strotzt vor Energie. Gemeinsam mit Florian Odendahl als Nachbar und Sport-Buddy, Claus Thull-Emden als trotteliger Sohn und Simone Pfennig als wunderbar robuste Gutachterin legt er eine gut getimte und schlagfertige Show hin über einen, der sich aufs Sofa legte, um die Versicherung zu betrügen.

Es ist ein geschickter Kniff von Autor Heinersdorff, die Pflegebedürftigkeit als Mittel zum Zweck einzusetzen. So kann das Ensemble mit Requisiten wie Bettpfannen und Schnabeltassen hantieren und die Schrecken der Pflegebedürftigkeit aufscheinen lassen, ohne in die Betroffenheitsschiene zu rutschen. Doch die drei Recken haben ihre Betrugsrechnung ohne Frau Weber gemacht: Diese erklärt ihnen nämlich den besonderen Service der Versicherung - und zieht gleich ein als 24-Stunden-Pflegekraft, führt das Spiel der Männer mit weiblicher List ad absurdum.

Jochen Busse weiß nicht mehr weiter

So weit, so komisch. Irgendwann mitten im zweiten Teil dann gibt es Standing Ovations. Für Jochen Busse, der irgendwann in seinem furiosen Spiel mit der Gebrechlichkeit strauchelt und nicht mehr weiter weiß im Text. Und für Simone Pfennig, die die Panne wunderbar zum Teil des Spiels macht, sich erstmal einen Smoothie aus Günthers Kühlschrank genehmigt - ist ja alles da - und ihrem Kollegen zur Seite steht, der sichtlich hadert mit sich. Kurz sieht es aus, als würden sie abbrechen, doch dann nehmen es alle mit dem nötigen Humor.

Busse meint: "Wenn ich gewusst hätte, dass ich diesen Erfolg haben würde, hätte ich schon im ersten Teil nichts gekonnt." Dass Günther im Text anschließend tatsächlich gemeinsam mit Frau Weber die Jungen an der Nase herumführt und so tut, als sei er plötzlich wirklich gealtert, wird in dieser Situation zur Steilvorlage.

Jochen Busse mit Florian Odendahl und Claus Thull-Emden.
Jochen Busse mit Florian Odendahl und Claus Thull-Emden. © Jennifer Zumbusch

Wie man Pflegestufe 4 simuliert

"Ich habe meine Simulierung derartig perfektioniert, dass ich mich daran infiziert habe", sagt Busse. Und auf einmal wird das Theater zum Leben, das Leben zum Theater. Ein Gänsehautmoment. "Was haben Sie mit ihm gemacht?", fragt der fassungslose Kai. "Pflegestufe 4", antwortet Frau Weber trocken. "Haben Sie doch beantragt."

Jochen Busse mit Florian Odendahl.
Jochen Busse mit Florian Odendahl. © Jennifer Zumbusch

Und so darf das Publikum an diesem Abend miterleben, was nicht nur das Theater sehenswert, sondern das Leben lebenswert macht: Humor, Empathie und Miteinander. "Man sieht es an mir", scherzt Busse: "Man muss nicht alles wissen!" Dass er am Ende dieses emotionalen Abends von René Heinersdorff zum Ehrenmitglied des Theaters ernannt wird, ist mehr als verdient. Und wer im Stück am Ende übrigens wen geprankt hat, das werden die Herren der Schöpfung auch noch rausfinden.

Das Stück läuft bis zum 7. April in der Komödie im Bayerischen Hof

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