"Jerusalem" am Staatstheater Augsburg: Halb Party, halb Weltuntergang

Ein besonderer Theaterabend war das auf jeden Fall am Wochenende am Staatstheater Augsburg: Das in Großbritannien gefeierte Stück "Jerusalem" von Jez Butterworth, ein auch sprachlich meisterhaft komponiertes Bühnenwerk rund um einen in einem Wald im Wohnwagen lebenden Kleindealer und seine meist jugendlichen Kunden, genoss mehr als zehn Jahre nach seiner Uraufführung in London seine deutschsprachige Erstaufführung.
Der Dealer muss weg
Endlich, muss man nach der Premiere sagen. Denn das Stück trägt in sich eine Wucht, die klar beschreibt, wie die Wunde ausschaut, wenn eine Gesellschaft auseinanderbricht. Der Dealer, der in seinem Wald einen kleinen, harmlosen rechtsfreien Raum geschaffen hat, muss weg. Das haben die Behörden angeordnet. Der Grund: In der Nachbarschaft ist eine Neubausiedlung geschaffen worden, die weiter wachsen soll.
Frühstück: Milch, Ei, Schnaps und ein Pülverchen
Sebastian Müller-Stahl ist in Augsburg dieser Johnny "Rooster" Byron, der Anarchist, der im Zentrum von allem steht. Oder eher: wankt. Vollgedröhnt von Anfang an, akzeptiert er die Wirklichkeit nicht nur nicht, sondern er verweigert sich ihr.
Er frühstückt erst einmal eine Komposition aus Milch, Ei, Schnaps und einem mußmaßlich bewusstseinserweitertem Pülverchen, bevor er sich einem Tag stellt, der angefüllt ist mit dem Konsum legaler und illegaler Drogen und dem Umgang mit seinen "Ratten" – den Jugendlichen, die aus dem Ort stammen und sich dort wohl fühlen bei Johnny. Sie genießen die Aufsichtslosigkeit in der Aussichtslosigkeit ihres Daseins. Denn eines zeigt Butterworth deutlich: Der arme Teil der Bevölkerung ist in einem Ausmaß chancenlos, dass auch ein politisches Bewusstsein weniger erstrebenswert scheint als eine milde, drogengeschwängerte Bewusstlosigkeit.

Ein Ausweg aus der Notlage – Sagen, Legenden und Märchen
Das Erstaunliche am Stück – und an der Augsburger Umsetzung durch Intendant André Bücker – ist, welche Kraft dennoch in dieser Ohnmacht steckt. Klar leben die Leute hier in einer offensichtlichen Sackgasse. Die megarealistische Kulisse (Bühnenbild: Jan Steigert) rund um diesen alten Wohnwagen mit all dem Müll und Dreck, alles verkracht wie der Bewohner selbst deutet das an.
Aber das Stück gibt auch einen Ausweg an aus all dieser Notlage: die Sagen, Legenden und Märchen, die im alten England stecken. So wie das Gedicht "Jerusalem" von William Blake dort überaus populär ist ("Und schritten jene Füße einst/auf Englands grünen Bergeshöhn?/Und ward das heil'ge Gotteslamm/auf Englands Auen je gesehn?"), so klemmt der Autor zunehmend Sagenstoff in sein Realitätsbild mit hinein. Und das muss Gründe haben.
Besonders reizvoll – das offene Ende
Man kann sich während der vier Stunden, die die Aufführung dauert, genug Gedanken darüber machen, ob wir da jetzt dem Absturz einer Gesellschaftsschicht zuschauen, die sich im Drogenrausch ein zu nichts führendes Lügengespinst zusammendichtet, oder ob hier eine ganz neue Tür aufgeht, die viel zu tun hat mit Robert Musils "Möglichkeitssinn": die Utopie der Phantasie.

Wenigstens betritt sie hier, auf der Bühne des Martini-Parks in Augsburg, erkennbar den Raum jenseits allen Realismus. Sprache und Handlung an diesem Abend sind bockstark, alle Darstellerinnen und Darsteller sind es auch. Müller-Stahl trägt wie ein gewichthebender Zirkusartist die zentrale Rolle, von der aus eine dauerzündende Explosion ausgeht: Halb Party, halb Weltuntergang. Besonders stark ist das – offene – Ende. Die Theatersaison in Bayern beginnt mit einem Knaller.
Wieder am 17., 20. und 25. September sowie am 20. Oktober und am 29. Dezember im Martini-Park. Infos unter staatstheater-augsburg.de