Jedem das Seine: Ein Chor aus Frauenstimmen

Seit der Antike arbeiteten sich die Gelehrten an diesem Satz ab. Philosophen beschrieben damit eine Welt, in der jeder Mensch seinen ihm angemessenen Platz findet, und für Juristen waren die drei Worte Leitfaden für Gedanken über eine gerechte Verteilung von Eigentum. Dann kamen die Nazis, die ihre Opfer mit dem gleichen Satz verhöhnten. "Jedem das Seine" stand auf dem Tor zum Konzentrationslager Buchenwald zu lesen. Mit diesem schwer überbietbaren Zynismus ist die einst humanistisch gedachte Formel auf Generationen hinaus vergiftet und unbrauchbar.
"Jedem das Seine" feiert München-Premiere
Das kümmert bei den Kammerspielen, die freilich bisher keinen Anlass gaben, sie einer Nähe zu rechtsradikalem Milieu zu verdächtigen, wenig. Am Montagabend hat "Jedem das Seine" Premiere in der Kammer 2. Steckt dahinter einfach Gedankenlosigkeit oder eine um Aufmerksamkeit buhlende Provokation?
Marta Górnicka, Autorin und Regisseurin des Werks, verneint beides entschieden: "Das Ziel ist nicht Provokation. In diesem Stück reden wir über Frauen" und es werde darüber geredet, "ob wir das Ende unseres Planeten verdient haben oder nicht. Wir reden auch über den Körper und über Gewalt, die im Körper steckt. Sie gehört strukturell zur Gesellschaft und zur Rückkehr des Faschismus." Die Renaissance rechtsradikaler Ideologie spürt die junge polnische Schauspielerin, Sängerin, Autorin und Regisseurin "ganz deutlich nicht nur in Amerika, sondern auch in meinem Land. Andererseits gibt es die Schönheit einer Bach-Kantate. Das alles gehört zur Komplexität dieses Titels." Die Methoden und Folgen des Faschismus’ thematisierte sie bereits in "Hymne an die Liebe", mit der sie im vergangenen Jahr beim Spielart-Festival gastierte. Darin waren KZ-Orchester Ausgangspunkt für eine Reflektion über Bedrohung durch das Kollektiv und die Brutalität seiner Sprache.
"Jedem das Seine" stand auf Tor zum KZ Buchenwald
Bei ihren Arbeiten ist sie nicht nur Regisseurin, sondern vor allem Dirigentin: Sie erzählt in einer chorischen Form, die sie mit dem 2010 in Warschau gegründeten "Chor der Frauen" entwickelte. Inzwischen ist Marta Góricka zu Hause von der Zensur durch die rechtspopulistische Politik Polens bedroht, aber anderswo ist die überzeugte Europäerin eine gefragte Künstlerin. "Jedem das Seine" ist ihre erste Produktion, die in München entstanden ist. Den Chor bilden zwölf professionelle Schauspielerinnen und Schauspieler sowie ebenso viele Amateure aus unterschiedlichsten Milieus und verschiedenen Alters. Die Vielfalt an Lebenserfahrungen spiegelt die Komplexität der Inhalte wider. Bei den Proben wurde viel miteinander gesprochen, berichtet Górnicka. Themen wie ein Bordell, das es im Dachauer KZ gegeben habe, führen zu Diskussionen über die Mütter und Großmütter mit der Erinnerungen an den Krieg, aber auch an die Körperwahrnehmung dieser Generationen. Gerade die Amateure brächten viel Energie ein. Das Libretto ist die Summe aus Ideen des Chors, Zitaten vieler Quellen sowie neuen Texten von Katja Brunner. Ursprünglich hatte "Die Hand ist ein einsamer Jäger", das jüngste Stück der schweizerischen Schriftstellerin, auf dem Spielplan gestanden.
Aber im Verlauf der Vorbereitungen änderten sich die Planungen. Die radikale feministische Position Brunners bleibt erhalten. Górnickas "Manifest", wie sie es nennt, bezieht sich unter anderem auf ein Manifest der futuristischen Frauen aus dem Jahr 1912 oder dem Scum-Manifest aus den 1960er-Jahren von Valerie Solana – jener Frau, die auf Andy Warhol schoss. Zum Stoff gehört auch die aktuelle Me-Too-Debatte um sexuelle Übergriffe nicht nur unter Filmpromis. Es habe eine positive Entwicklung gegeben, aber gegenwärtig, fürchtet Marta Górnicka, "sind wir Zeugen einer Gegenbewegung. Das Symbol für diesen Rückschlag ist Donald Trump".
Münchner Kammerspiele, Kammer 2, Premiere am heutigen Montag ausverkauft, nächste Vorstellungen: 30. Mai, 11., 12., 17., 19. Juni, 20 Uhr, Karten: 089/23396600