Jan Christoph Gockel über "Der Sturm"

Weihnachten steht vor der Tür, und ja, ein bisschen Theatermagie darf da schon sein - bei Kammerspiele-Hausregisseur Jan-Christoph Gockel bevorzugt unter Einsatz von Puppen, die sein langjähriger Mitstreiter Michael Pietsch für ihn baut und gemeinsam mit dem Ensemble in Bewegung bringt. Shakespeares "Der Sturm", das Stück über den Zauberer Prospero, der auf seiner Insel den Herzog von Mailand plus Gefolge stranden lässt, vermischt Gockel mit einem 2021 erschienen Roman von Werner Herzog: In "Das Dämmern der Welt" erzählt Herzog die wahre Geschichte des japanischen Soldaten Hiroo Onoda, der von 1945 bis 1974 auf der philippinischen Insel Lubang verweilte und nicht mitbekam, dass der Zweite Weltkrieg zu Ende ging.
AZ: Herr Gockel, Sie vermischen zwei Stoffe, die sich motivisch ähneln, aber doch unterschiedliche Tonarten anschlagen. Was war zuerst da: der Shakespeare oder der Roman von Werner Herzog?
JAN-CHRISTOPH GOCKEL: Shakespeare! Ich wurde schon öfters gefragt, ob ich mal den "Sturm" inszenieren würde, weil ich mich in meinem Regiearbeiten oft mit postkolonialen Themen auseinandersetze und gerade die Beziehung von Prospero zu seinem Diener Caliban in Bezug auf den damals aufdämmernden Kolonialismus gelesen werden kann. Das Insel-Setting fand ich super, aber ich hatte immer das Gefühl, dass dem Stoff etwas fehlt. Die Figuren entwickeln sich kaum, Prospero erscheint als mächtiger Zauberer und Friedensstifter, aber die Hochzeit seiner Tochter Miranda mit Ferdinand ist schon seltsam: Prospero bringt beide mit seiner Magie zusammen, überwacht alles - das ist so ein Beherrschungstraum eines Patriarchen. Wie bringt man das heute adäquat auf die Bühne?
Also kam der Roman von Werner Herzog dazu ins Spiel.
Ich erinnerte mich an Herzogs Roman und er erschien mir wie die düstere Nachtseite zu Shakespeares Stück. Nur, dass nicht ein Zauberer, sondern ein japanischer Soldat auf dieser Insel sitzt…
… und vom Ende des Zweiten Weltkriegs nichts mitbekommt. Wieso hat niemand Hiroo Onada informiert?

Es wurde ja versucht, aber Onada hat niemandem geglaubt! Seine Truppe bekam 1945 den Auftrag, die Insel zu verteidigen. Nach Kriegsende wurden Flugblätter über der Insel abgeworfen, aber Onada hielt sie für Propaganda der Alliierten - er hat die Nachrichten als Fake News abgetan! Er überfiel dann weiterhin Dörfer, tötete Zivilisten, kämpfte den Zweiten Weltkrieg weiter. Einerseits irrte er sich gewaltig. Andererseits kann man sagen, dass er auf eine gewisse Art und Weise völlig richtig lag.
Wieso?
Weil der Krieg tatsächlich kein Ende findet, sondern nur die Schauplätze sich verlagern. Das wird in dem Buch an einer zentralen Stelle gesagt: Ein junger Mann kommt zu Onada und teilt ihm mit, dass der Zweite Weltkrieg seit 29 Jahren zu Ende sei. Onada will das nicht glauben und sagt, dass er doch vor ein paar Tagen einen amerikanischen Flugzeugträger gesehen habe. Der junge Soldat klärt ihn auf, dass es in der Zwischenzeit andere Kriege gegeben habe: den Koreakrieg, den Vietnamkrieg…
…eine Aneinanderreihung von Kriegen, die sich bis ins Heute weiterführen lässt.
Ja! Uns wurde bei den Proben noch einmal verstärkt bewusst, wie Kriege sich wiederholen, wie sie ständig weitergehen! Es gibt den ersten Kongokrieg, den zweiten Kongokrieg, die erste Intifada, die zweite Intifada… Diese Reihen setzen sich fort. Wir empfanden die Notwendigkeit, uns mit der heutigen Kriegsrealität auseinanderzusetzen.
Womit Sie einen Vorteil des Theaters nutzen: dass es schnell auf das Weltgeschehen reagieren kann.
Man steht ja heute förmlich vor einer Wand und hat das Gefühl, dass alles nur noch schlimmer wird. Putin tritt 2024 erneut zur Präsidentschaftswahl an, Trump wird womöglich auch wiedergewählt. Dazu die Frage: Wie können die gerade tobenden Kriege zu einem Ende finden? Was diese Aussichten und unsere Kriegs-Gegenwart in uns auslösen - damit beschäftigen wir uns auf der Bühne, wollen das groß und poetisch machen und trotzdem nicht humorlos.

Dabei verwandelt sich einiges. Aus dem berühmten Prospero-Zitat "Wir sind der Stoff, aus dem die Träume sind" wird zum Beispiel in Ihrer Stückfassung "Wir sind der Stoff, aus dem der Krieg ist."
Hiroo Onada sagt in Herzogs Buch: Haben die Waffen, wenn sie einmal geschaffen sind, ein Eigenleben? Träumt der Krieg von sich selbst? Mit Shakespeare weitergesponnen, kann man sich fragen: Träumt der Krieg letztlich von uns? Wir Menschen sind austauschbar, setzen aber den Krieg immer weiter fort.
"Der Sturm" wiederholt sich ebenfalls, gerade an den Kammerspielen. Haben Sie die verschiedenen Inszenierungen gesehen?
Ich habe mir sowohl eine Aufzeichnung von Dieter Dorns Inszenierung von 1993 angeschaut, als auch eine von Stefan Puchers Inszenierung von 2007. Zufälligerweise liegen unsere Versionen jeweils 15 Jahre auseinander. Mir fiel dabei auf, wie stark beide Vorgänger in ihrer Zeit verankert sind. Dorns Inszenierung war sehr klassisch, ein großes Ensemble-Stück, mit Masken und Puppen. Und Puchers Version war modern, poppig, sehr gut gemacht, ein bisschen unpolitisch. Lustigerweise hat Thomas Schmauser bei Pucher Caliban gespielt. Bei uns ist er Prospero und Hiroo Onada in einer Person.
Nicht nur bei Thomas Schmauser vermischen sich zwei Figuren. Bernardo Arias Porras ist zum Beispiel sowohl der Herzog von Mailand als auch: Werner Herzog!
Wir fanden die Idee sehr reizvoll, dass auf der Insel auch ein Filmemacher angeschwemmt wird, der mit seiner Kamera in den Dschungel eindringt. Gleichzeitig ist das ein schöner Anlass, Werner Herzogs Texte über die Filmkunst, seine ästhetischen Überlegungen und Manifeste in den Abend einfließen zu lassen. Herzog fordert zum Beispiel in einem Text adäquate Bilder, die unter die Oberfläche unserer Gegenwart blicken lassen. Bei den heutigen Kriegen entstehen regelrechte Bilderstürme, aber die Frage ist, ob sich mit diesen "Live-Streams" die Welt tatsächlich erzählen lässt. Eigentlich müsste man Bilder finden, die hinter die Kriegsoberfläche blicken…

…und im Sinne Herzogs eine "poetische, ekstatische Wahrheit" sichtbar machen…
Genau. Um solche Bilder sollte man ringen. Diese Suche ist für den ganzen Abend wichtig.
In der Stückfassung ist eine E-Mail von Werner Herzog an die Kammerspiele integriert, in der er meint, dass er den "Sturm" nie gelesen habe und ihm schleierhaft ist, wie sich dieses Stück mit seinem Buch verbinden lässt, aber das er sich diesem Ansatz nicht verweigern will… Kommt er denn zur Premiere?

Sein Bruder, der auch sein Produzent ist, hat sich angekündigt. Werner Herzog… schauen wir mal. Vielleicht kommt er inkognito. Vor allem hat mich an der Mail gefreut, dass Werner Herzog sagt, dass er sich überraschen lässt. Über 80 Jahre alt und noch neugierig - auch darin ein Vorbild.
Wie inszenieren Sie denn den titelgebenden Sturm? Mit Scheinwerfer-Blitz und Theaterdonner?
Blitz und Donner nicht. Aber wir haben eine fantastische Band auf der Bühne. Mit ihrer Unterstützung wird es einige Stürme geben, bei denen auch die Puppen gehörig durcheinandergewirbelt werden. Und natürlich gibt es ein paar heftige innere Stürme.
Premiere am 14. Dezember, 20 Uhr, Restkarten unter Telefon 233 966 00, nächste Aufführungen am 20., 25. und 27. Dezember