Kritik

"Iphigenie"-Projekt: Versäumtes in der Vergangenheit

Salzburger Festspiele: Das "Iphigenie"-Projekt von Ewelina Marciniak und Joanna Bednarczyk auf der Perner-Insel.
von  Mathias Hejny
Die gespiegelte Hauptfigur: Rosa Thormeyer (Iphigenia, von links), Sebastian Zimmler (Agamemnon/Toas) und noch einmal Oda Thormeyer.
Die gespiegelte Hauptfigur: Rosa Thormeyer (Iphigenia, von links), Sebastian Zimmler (Agamemnon/Toas) und noch einmal Oda Thormeyer. © Salzburger Festspiele / Krafft Angerer

Wäre diese Inszenierung ein industriell gefertigter Snack, müsste auf der Packung ein Satz stehen wie "Dieses Produkt kann Spuren von Euripides und Goethe enthalten". Die Frage, wie eine Überschreibung der "Iphigenie"-Tragödien aus Antike und Weimarer Klassik durch die Regisseurin Ewelina Marciniak und ihre Autorin Joanna Bednarczyk aussehen könnte, gehörte zu den spannendsten bei den diesjährigen Salzburger Festspielen. Die Premiere auf der Pernerinsel in Hallein erschien, grob zusammengefasst, dann nicht als "Überschreibung" überlieferter Texte, sondern als eine pastose Übermalung mit der ganz großen psychologischen Bürste.

Insofern war die Ankündigung einer Uraufführung von "Iphigenia" keine Übertreibung der Marketingabteilung. Aus dem bis in die fünfte Generation verfluchten Atriden-Clan ist jetzt Teil der bildungsbürgerlichen Elite geworden. Papa Agamemnon (Sebastian Zimmer) ist ein anerkannter Ethik-Professor, der gerade seiner ersten Buchveröffentlichung über Moralsysteme von Tätern und Opfern entgegenfiebert. Mama Klytaimnestra (Christiane von Poelnitz) ist eine gefeierte Theaterschauspielerin. Tochter Iphigenia (Rosa Thormayer) ist Anfang 20 und ihrer großen Weltkarriere als Pianistin scheint nichts mehr im Wege zu stehen.

Es gibt viele Diskurse zu führen

Wie zu einer therapeutischen Familienaufstellung wird auch der Rest der Sippe auf dem von Bühnenbildner Mirek Kaczmarek mit elegantem Parkett verkleidetem Podium vor effektvollem Spiegel aufgereiht: Onkel Menelaos (Stefan Stern), der meistens gut drauf ist und die exzentrische Wuchtbrumme Helena (Lisa-Maria Sommerfeld) sowie Iphigenias aktueller Lover Achilles (Jirka Zett). Als Fußball-Profi rundet er das gehobene Milieu intellektuell nach unten ab, was ihn nicht daran hindert, immer wieder mal Gescheites zu sagen.

Das machen hier aber alle, denn es gibt viele Diskurse zu führen, um die über allem schwer lastenden Schatten auszuleuchten. Menelaos hat jahrelang seine Nichte Iphigenia missbraucht. Das undankbare Kind will das ausgerechnet jetzt ausplaudern, als der Vater vor dem Durchbruch als wissenschaftlicher Schriftsteller steht. Dessen Forderung an die Tochter, einfach zu schweigen, ist Ewelina Marciniaks über die Epochen hinwegschwellende Analogie zur Opferung Iphigenies.

Iphigenia bricht sich selbst die Finger

Denn als Agamemnon nach Troja segeln wollte, um die geraubte Helena zurück zu erobern, verordnete Göttin Artemis eine Windstille über Aulis. Erst, wenn der Heerführer seine Tochter ihr opfert, wollte sie die Weiterfahrt möglich machen. In der mythischen deutschen Großstadt, in der die polnische Regisseurin die Tragödie ansiedelt, muss das Opfer selbst Hand an sich legen. Iphigenia tötet ihre Existenz als Klaviervirtuosin, indem sie sich die Finger bricht.

Es ist nicht so, dass es nicht die großartigen und sinnlichen Bilder zu sehen gebe, für die Marciniak berühmt ist und die sie zu einer Hoffnungsträgerin des deutschsprachigen Theaters machte. Vor allem in den letzten 30 der insgesamt 150 pausenlosen Minuten, einem 20-jährigen Sprung in die Wellness-Oase Tauris und nach einem aufwändigen Umbau, bei dem Stefan Stern als der Rolle des bösen Onkels entstiegene Erklärbär lamentiert, wie unschön es ist, einen Päderasten spielen zu müssen, kommt es sogar zu magischen Begegnungen.

Iphigenia trifft auf den nun erwachsenen kleinen Bruder Orestes (wiederum: Jirka Zett) sowie auf ihr fast den ganzen Abend über präsentes älteres Ego (gespielt von Oda Thormayer, der Mutter Rosa Thormayers). Es entspinnen sich intensive Dialoge über Versäumtes in der Vergangenheit. Marciniak und Bednarczyk zeigen für Momente, was sie an dramatischer Dichte könnten, wenn sie es wollten. Zum Finale ist es dann wieder nur der aus den Wassern steigende Nebel, der wirklich dicht ist.

Pernerinsel, Hallein, wieder am 23., 24., 26. bis 28. August, 19.30 Uhr, Karten unter salzburgerfestspiele.at und unter Telefon 0043 662 8045500

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