Internationales Figurentheaterfestival in München: Mitten im Diskurs

Im Foyer des Stadtmuseums sitzen sie in Grüppchen an zwei Schulbänken und sehen so gar nicht brav aus: sieben lebensgroße Kinderpuppen, die einen hellwach anschauen, wobei man fast eine achte übersehen hätte, die unter der Bank herumlümmelt.
Die acht Schüler, die der Puppenbauer und -spieler Michael Pietsch erschaffen hat, kamen bereits zu Bühnenehren und zwar in Jan-Christoph Gockels Adaption von Ernst Tollers Roman "Eine Jugend in Deutschland" in den Kammerspielen.
Anlässlich der am Freitag startenden Ausgabe des alle zwei Jahre stattfindenden Internationalen Figurentheaterfestivals mit dem Titel "wunder." kann man die Pennäler nun als Installation im Stadtmuseum bewundern.
Per Live-Übertragung sind zwei Ensembles miteinander verknüpft
Zu Beginn des Festivals beschäftigt sich Laia Rica in "Kaffee mit Zucker?" damit, welche Reise die Kaffeebohne bis zu uns unternimmt, und denkt dabei über ihre eigene Identität als Künstlerin zwischen El Salvador und Deutschland nach (Freitag 20 Uhr, und Samstag, 18 Uhr, im Saal des Stadtmuseums).
Ebenfalls von einer Welt in die andere - aus dem Keller eines ethnologischen Museums in München zurück in ihre Heimat - will eine Statue der westafrikanischen Prinzessin Yennenga in "Les statues rêvent aussi. Vision einer Rückkehr", inszeniert von Jan-Christoph Gockel und dem burkinischen Choreografen Serge Aimé Coulibaly. Die Kammerspiele-Produktion wird im Rahmen des Festivals am Samstag um 20 Uhr in der Therese-Giehse-Halle als auch im westafrikanischen Lomé uraufgeführt; per Live-Übertragung sind die Ensembles miteinander verknüpft.
Bei der Lecture-Performance "Simple Machines" des Belgiers Ugo Dehaes darf das Publikum gleich selbst an kleinen Roboterwesen Hand anlegen und die Choreographie der Maschinen mitgestalten (mehrmals am Sonntag und Montag in der Schauburg). "Das macht viel Spaß", verspricht Festivalleiterin Mascha Erbelding. "Gleichzeitig zeigt das Stück, wie schnell wir Menschen überflüssig werden können. Es gibt ja bereits künstliche Intelligenzen, die in der Lage sind, Bilder zu malen und Bücher zu schreiben."
Figurentheaterfestival 2022: Bis zum 8. November gibt's 30 Produktionen zu sehen
Die künstliche Intelligenz, die ein ganzes Festival planen kann, muss jedoch erst noch erfunden werden. Mascha Erbelding leitet das Festival seit 2007; bei der letzten Ausgabe im Jahr 2020 musste sie ziemlich viel umdisponieren. Das Motto "Macht Geschichte!" war da schon geplant, aber viele Stücke konnten pandemiebedingt nicht eingeladen werden.
Insofern gibt es jetzt einen weiteren Anlauf mit den einst geplanten Stücken, plus einigen weiteren. Bis zum 8. November stehen 30 Produktionen auf dem Programm, ein Teil kommt aus Deutschland, der andere Teil aus Afghanistan, Belgien, El Salvador, Frankreich, den Niederlanden, der Schweiz, Norwegen, Slowenien, Spanien und der Ukraine.
Auch das NS-Dokumentationszentrum ist als Kooperationspartner an Bord
Wegen des Krieges ist Puppenspielerin Irina Svietashova nach Deutschland geflohen, sie lebt derzeit in Dresden und führt als Kopf des Puppentheaters Artway am Sonntag, den 6. November, um 11 Uhr "Das schelmische Häschen" im Bellevue di Monaco auf. Eingeladen sind vor allem auch ukrainische Kinder und Erwachsene, das Stück wird in ihrer Muttersprache gezeigt. Insgesamt wirkt das Festival so politisch aufgeladen wie noch nie. So befasst sich die belgische Compagnie Point Zéro in "The Forgotten Land" mit dem Reaktorunglück von Tschernobyl, basierend auf Interviews, die sie 2018 in Weißrussland und in der Ukraine geführt haben (19. Oktober, 20 Uhr; und 20. Oktober, 11 und 19 Uhr, in der Schauburg).
Zudem beschäftigen sich gleich mehrere Produktionen mit dem Holocaust: Nikolaus Habjan bringt zum Beispiel seine großen Klappmaul-Puppen für ein Stück über die Euthanasie-Verbrechen im Dritten Reich zum Einsatz: "F. Zawrel - Erbbiologisch und sozial minderwertig" ist am Mittwoch, 19. Oktober, und Donnerstag, 20. Oktober, jeweils um 20 Uhr im Kulturzentrum Bosco Gauting zu sehen. Eine Produktion, die Mascha Erbelding bereits 2007 unbedingt einladen wollte, ist "Kamp" des niederländischen Kollektivs Hotel Modern.
War die Suche nach einem passenden Raum zuvor erfolglos, so kann "Kamp" jetzt in der Therese-Giehse-Halle der Kammerspiele gezeigt werden (am Donnerstag, 3. November, und Freitag, 4. November, jeweils 20 Uhr), das NS-Dokumentationszentrum ist als Kooperationspartner an Bord. Das Stück entwickelt aus dem Kleinen monströse Ausmaße: Durch einen Miniatur-Nachbau und dreitausend fingergroße Figuren stellt Hotel Modern den Alltag und das Grauen im Konzentrationslager Ausschwitz-Birkenau nach. Ein Kamerateam wandelt durch das Szenario, versetzt und filmt die Figuren, die auf der Leinwand in menschlicher Lebensgröße erscheinen.
"Die Leute wollen angesichts der ganzen Krisen vielleicht einfach nur abschalten"
Als Festivaleinladung ist "Kamp" ein Muss, aber wie auch einige andere Stücke nicht gerade leicht verdauliche Kost. "Nach der Programmierung habe ich mich auch gefragt, ob das gerade zur allgemeinen Stimmung passt", räumt Mascha Erbelding ein. "Die Leute wollen angesichts der ganzen Krisen vielleicht einfach nur abschalten. Dieses Geschichts-Thema ballt sich aber nun mal seit einigen Jahren, was vielleicht auch eine Reaktion der Theater auf die Frage ihrer 'Systemrelevanz' ist. Auch im Figurentheater ist zu beobachten, dass die Künstler ihre Bedeutung für die Gesellschaft behaupten wollen, mit Arbeiten, die nicht einfach nur gefällig sind, sondern die mitten im Diskurs stehen, die den Finger auf wunde Punkte legen, aber auf eine Weise, dass man auch Lust bekommt, zuzuschauen."
Selbst im Kinder-Programm, das sich vor allem in der Pasinger Fabrik abspielt, findet sich nicht einfach nur schlichter Eskapismus. Was Mascha Erbelding aber ganz richtig findet. "Gutes Kindertheater ist unterhaltsam, aber es hat meistens auch einen emanzipatorischen Zug. Es geht darum, Kinder zu empowern. Dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen." Selbst ein Stück wie "Määäh! Ein Schafskrimi" der Schweizer Truppe "Gustavs Schwestern" (27. Oktober, 10.30 und 15 Uhr, in der Pasinger Fabrik) birgt neben Spannung und schrägem Witz auch die Botschaft an die Kleinen, sich eigene Gedanken zu machen und sich von den Erwachsenen nicht für dumm verkaufen zu lassen.
Vor allem steigende Kosten belasten den wachsenden Etat
Als eine weitere Lieblingsproduktion nennt Mascha Erbelding "Irgendwo anders" des Puppentheaters Ljubljana. Die Slowenen betrachten einen Krieg durch die Augen eines Mädchens, das versucht, sich an einen anderen Ort wegzudenken. (21. Oktober, 10.30 und 15 Uhr, Pasinger Fabrik). Aber gibt es einen Ausweg? Auch in "Katastrophe! Katastrophe!" des Münchner Duos Tine Hagemann und Andrea Kilian wird mit kindlichem Blick auf eine Welt geschaut, "in der eine Hiobsbotschaft die nächste jagt", erzählt Erbelding. "Die Figuren versuchen, die Untergangsstimmung aufzulösen, was aber nicht in einer ,Heile Welt'-Fantasie endet. Es geht eher darum, die Katastrophe für sich in den Griff zu bekommen" (23. Oktober, 15 Uhr; 24. Oktober, 10.30 Uhr, Saal des Stadtmuseums).
Erneut dockt das Papiertheaterfestival im Bürgerpark Oberföhring an (20. bis 23. Oktober), zudem gibt es erstmals ein Programm mit animierten Dokumentarfilmen im Filmmuseum (21. bis 30. Oktober). Finanziell ist das Festival gut aufgestellt, 200.000 Euro stehen zur Verfügung, die Hälfte des Budgets trägt die Stadt. Der wachsende Etat wird aber vor allem von steigenden Kosten geschluckt.
Schön ist es da, dass Puppen keine höheren, ja, überhaupt keine Gagen verlangen. Diejenigen, die sie animieren, aber natürlich schon. Am Ende heißt es "Tanz ist eine tolle rhythmische Bewegung zu Musik" - so der Titel einer preisgekrönten Performance des niederländischen Theaters Artemis (7. November, 11 und 19 Uhr; 8. November, 10 Uhr, Schauburg). Das ganze Theater wird dabei belebt, verrät Mascha Erbelding, "sogar die Krawatten tanzen mit." Darf das Publikum auf die Bühne zum Mitgrooven? "Nein, man ist Zuschauer. Aber man darf intensiv mitzucken!"
Internationales Figurentheaterfestival - bis 8. November in verschiedenen Münchner Spielstätten. Das gesamte Programm findet sich unter www. figurentheater-gfp.de/festival-2022.php