"Ingolstadt" bei Salzburger Festspielen: Tief im lauwarmen Wasser

Fast ist es eine Uraufführung. Beide Texte sind zwar knapp 100 Jahre alt und wurden seither von Zeit zu Zeit immer wieder einmal wiederentdeckt, aber der belgische Regisseur Ivo van Hove war der erste, der für die Salzburger Festspiele "Fegefeuer in Ingolstadt" und "Pioniere in Ingolstadt" von Marieluise Fleißer zum Projekt "Ingolstadt" verschraubte. Mit einigen Tagen Verspätung wegen Coronafällen im großen Ensemble und drei pandemiebedingten Neubesetzungen fand auf der Perner-Insel in Hallein die Premiere statt. Ab September wird die Produktion vom koproduzierenden Burgtheater in Wien übernommen.
Die Dramaturgen Koen Tachelet und Sebastian Huber erzählen tatsächlich beide Stücke mehr oder weniger parallel. Szenen werden wechselweise gespielt und bleiben überwiegend im Original. Gelegentlich greift sogar das Personal des einen Stücks in das andere ein. Das gelingt erstaunlich homogen, obwohl das "Fegefeuer" und die "Pioniere" abgesehen von Ort und das Jahrzehnt auf den ersten Blick keine Gemeinsamkeiten haben. Die Geschichte vom Brückenbau über einen Nebenarm der Donau durch preußische Pioniere ist gar, so flunkert die Autorin bei der Gattungsbezeichnung, eine Komödie.

Militärischen Drill: Ein wenig ulkig
Natürlich ist das Werk weder bei Fleißer noch bei van Hove komisch, sieht man vom militärischen Drill ab, der immer ein wenig ulkig wirkt. Im zuvor entstandenen Debütdrama der 25-jährigen und sowohl von Lion Feuchtwanger als auch von Bertolt Brecht stark beeinflussten Jungdramatikerin steht eine Gymnasiasten-Clique im Mittelpunkt. Olga (Marie-Luise Stockinger) ist ungewollt schwanger und Roelle (Jan Bülow) ist ein fundamentalistischer Katholik, der um Olga wirbt, um das Kind zu retten.
Der Mann im zweiten Stück ist der Soldat Korl (Maximilian Pulst), in den sich das Hausmädchen Bertha (Lilith Häßle) verliebt, aber von Korl schließlich verstoßen wird. Hier sind die subtilen Machtstrukturen von Familie und Religion die Beschleuniger der Katastrophe, dort die viel durchschaubarere, aber nicht minder wirkungsvolle Hierarchie des Militärs. Van Hove setzt auf die Zeitlosigkeit von Strukturen, die seit Kaiser Wilhelm noch recht gut erhalten sind. Die Kostüme von An D'Huys orientieren sich an der Freizeitkleidung unserer Tage.
Ingolstadt: endloses Volksfest
Das Ingolstadt, das Bühnenbildner Jan Versweyweld in die ehemalige Saline stellte, ist mit seinen bunten Glühbirnengirlanden sowohl ein endloses Volksfest als auch nicht nur nah ans, sondern ins Wasser gebaut. Offenbar hat man sich dort an die herumstehende Brühe so gewöhnt, dass man nur selten die kleinen Inselchen benutzt, sondern durchs Nass schlurft. Es gibt erstaunlich tiefe Stellen, in denen man ertrinken, aber auch von anderen ertränkt werden kann.
Trotz dieses umfassende Gefühls, von Vorschriften und Geboten umstellt und bedroht von Übergriffen aller Art zu sein, bleibt die Inszenierung bei einer ständig gleichbleibend niedrigen Temperatur, was über die lange Distanz von 150 pausenlosen Minuten zu ihrer Schwäche wird. Immer wieder erlahmt die Spannung.
Dann, plötzlich und unerwartet, kommt es zu eruptiver Gewalt: Ein enthemmter Totschlag, ein grausames Waterboarding, die unerbittlichen Vergewaltigungen sowohl als Einzeltäter als auch in der Gruppe, und das sehr sorgfältig in Szene gesetzt. Aber es ist heute schwer geworden, ein Theaterpublikum noch zu erschrecken oder zumindest zu irritieren. Als Bertolt Brechts "Pioniere"-Inszenierung 1929 in Berlin gespielt wurde, reichte noch das rhythmische Wackeln einer Gerätekiste, in der gerade eine Entjungferung stattfand, für Proteste im Saal.
Perner-Insel Hallein, 4., 5., 7. August, Karten unter Telefon 0043 6628 045 500