Kritik

"In the Name of" in den Kammerspielen: Zersprengte Identität

Die Uraufführung von Liat Fassbergs Stück "In the Name of" im Werkraum der Münchner Kammerspiele.
Michael Stadler |
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Svetlana Belesova, Isabell Antonia Höckel, Anton Nürnberg, Bernardo Arias Porras in "In the Name of"..
Svetlana Belesova, Isabell Antonia Höckel, Anton Nürnberg, Bernardo Arias Porras in "In the Name of".. © Foto: Armin Smailovic/Agentur Focus

München - Am Ende bekommt man Zahlen und das Leid einer Mutter um die Ohren geknallt.

So waren es in Spanien um die 300.000 Kinder, die zwischen 1939 und 1975 aus systemkritischen Familien entführt und an getreue Anhänger des Franco-Regimes weitergegeben wurden, später auch an kirchliche Institutionen und Krankenhäuser, die ein regelrechtes Geschäft mit Adoptionen aufzogen.

Endlos lange Liste der systematischen Entwendung von Kindern

Oder ungefähr 250.000 Kinder, meist aus verarmten Einwandererfamilien, die in den USA des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in die Hände christlicher Familien landeten. In Australien wurden indigene Familien bis 1960 ihres Nachwuchses beraubt, in der Summe kommt man hier auf rund 100.000 solcher Fälle.

Die Liste der systematischen Entwendung von Kindern lässt sich weiter fortsetzen. Auch in der DDR, in Belgien, Israel und Kanada wurden Familien willkürlich zerrissen. Und dann steht mit Lisa Marie Stojèev eine Schauspielerin auf der Bühne des Werkraums, die nicht nur diese massiven Zahlen aufeinandertürmt, sondern auch eine Mutter darstellt, die als einzelnes Opfer die Täter in ihrer Gesamtheit anklagt: "Ihr habt mein Kind geklaut!".

Theaterabend im Stile einer überbordenden Collage

Es ist ein sehr direktes, emotionales, vielleicht allzu sehr auf Betroffenheit zielendes Finale für einen Theaterabend, der einen zuvor im Stile einer überbordenden Collage mit angerissenen Szenen, schnell konturierten Figuren, chorischen und solistischen Momenten bombardiert hat. Was zu der Vorlage durchaus passt, denn ähnlich überfordert kann man sich beim Lesen von Liat Fassbergs Stück fühlen.

Auf DIN-A3-Bögen hat die 1985 in Israel geborene Dramatikerin unterschiedliche Texte gesetzt, wobei sie in der Blattmitte einzelne Worte verteilt. Es sind Sätze, zersprengt wie die Identitäten der Kinder, von denen das Stück handelt. An den Rändern hat Fassberg gelbe, beschriftete Post-Its geklebt oder mit Klammern weitere Texte befestigt, darunter Zeitungsartikel und lexikalische Definitionen, die wie Kommentierungen wirken.

Fassberg gewann 2021 den Münchner Förderpreis für deutschsprachige Dramatik

Ein ähnliches Arrangement kennt man vom jüdischen Talmud, der auch Vorbild für Fassberg war. Für das gesamte Stück, betitelt mit "In the name of", gewann Fassberg 2021 den Münchner Förderpreis für deutschsprachige Dramatik; nach längerer Recherche vollendete sie es während ihrer Teilnahme an einer Residenz für Autorinnen und Autoren an den Kammerspielen.

Joel-Conrad Hieronymus, Regie-Assistent an den Kammerspielen, hat sich an die nicht gerade leichte Aufgabe gemacht, das formal außergewöhnliche Werk auf die Bühne zu bringen. Dabei standen ihm mit Svetlana Belesova, Edmund Telgenkämper, Bernardo Arias Porras und Wiebke Puls (krankheitsbedingt ersetzt durch Lisa Marie Stojeev) versierte Ensemblemitglieder der Kammerspiele zur Verfügung. Komplettiert wird das Team durch die Schauspielschüler Isabell Antonia Höckel und Anton Nürnberg, wodurch verschiedenste Altersstufen auf der Bühne vertreten sind.

Regisseur Joel-Conrad Hieronymus startet ein Experiment und probiert einiges aus

Das Ganze ist ein Experiment, entsprechend dem Werkstattcharakter des Werkraums. So, wie Liat Fassberg nach neuen Formen des dramatischen Schreibens sucht, probiert auch Joel-Conrad Hieronymus einiges aus. Dabei stellt er sich den Herausforderungen des Textes, lässt etwa die in der Seitenmitte versprengten Worte vereinzelt von den Spielern sprechen.

Wort für Wort bilden sie Sätze, setzen Akzente, sprechen einzelne Passagen chorisch, was den Eindruck einer (Schicksals-)Gemeinschaft ergibt, die um einen sprachlichen Ausdruck für etwas ringt, was sich in seinen psychischen Auswirkungen für jede einzelne Familie kaum fassen lässt.

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Wie mag das für ein Kind sein, wenn es eines Tages erfährt, dass es ganz andere Eltern hat? "Irgendwo gibt es jemanden auf der Welt, der sie nicht wollte", heißt es einmal. An anderer Stelle sucht das Kind in jedem Gegenüber seine biologische Mutter, seinen biologischen Vater. Lisa Marie Stojcev bildet dabei den singulären Gegenpol zu den anderen Spielern.

"In the Name of": Umfassende Materialsammlung - ohne einen klaren Fokus

Die bilden den Chor, verwandeln sich aber auch in rasanten Kostümwechseln in Typen, von der Nonne bis hin zum berüchtigten US-Psychiater Dr. Peter Neubauer, der Zwillinge trennte und zur Adoption freigab, um zu untersuchen, ob die Gene oder Sozialisation für die kindliche Entwicklung entscheidend sind.

Dieser bunte Reigen prescht am Auge vorbei, ist genauso kleinteilig wie das mit organisch-rötlichen Tüchern verhangene, mit grauen Teppichfetzen bedeckte Bühnenbild von Leonard Mandl. Auch die von Max Mahlerts Soundinstallation umspielte, von Wiebke Puls kuratierte Ausstellung im Foyer des Werkraums, in der unter anderem Texte zu finden sind, die Fassberg an den Seitenrändern ergänzt, überwältigt mit interessanten, schockierenden Informationen.

Der Abend bietet eine umfassende Materialsammlung zu einem Thema, das sicherlich weiterer Aufdeckung bedarf. Er setzt aber keinen klaren Fokus. Diese Offenheit kann man schätzen. Oder eine künstlerische Haltung vermissen, die sich nun mal auch in einer entschiedenen Auswahl ausdrückt.


Werkraum der Kammerspiele, Hildegardstraße 1, nächste Aufführungen: 10. April, 19 Uhr, und 11. April, 19.30 Uhr, Telefon 233 966 00

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