In einem Wald aus Zaunpfählen: Die "Orestie" auf der Pernerinsel

Als Elektra die Waschmaschine füllt, ist längst klar, dass es in diesem Haushalt viel schmutzige Wäsche gibt. Ihr Bruder Orest hat die Mutter Klytaimnestra getötet, weil sie ihren Gatten Agamemnon umbrachte. Dieser hatte seine und Klytmaimnestras Tochter Iphigenie geopfert. Das entspricht der Väter Sitte: Jeder Mord ist der Anlass eines weiteren Mords.
Dass die Spirale der Gewalt durchbrochen wird und die Schaffung einer objektiven Gerichtsbarkeit ein wichtiger zivilisatorischer Schritt wäre, ist nicht neu, aber während der letzten zweieinhalb Jahrtausende muss immer wieder daran erinnert werden.
Aus drei mach' vier mit Euripides und eigener Feder
Diese Aufgabe übernimmt in diesem Sommer Nicolas Stemann mit seiner dritten Arbeit für die Salzburger Festspiele nach Schillers "Die Räuber" 2009 und einem großzügig dimensionierten "Faust"-Projekt 2011. Freunde des antiken Dramas werden schon beim Titel "Die Orestie I - IV" stutzig. Denn von der "Orestie" des Aischylos aus dem Jahr 458 vor Christus sind nur drei Teile überliefert. Stemann komplettiert die historische Dramaturgie mit dem ein halbes Jahrhundert jüngeres Stück "Orestes" von Euripides und vielen Dialogen aus eigener Feder.
Der Regisseur, der gerne mitspielt, eirnnert in einer zur Inszenierung gehörenden Werkeinführung an die Dionysien, den gottgefälligen Weihefestspielen in Athen, als ein Theatertag zwölf Stunden dauerte und mit einem launigen Satyrspiel beendet wurde.

Mit stark gerafften und doch ums tagesaktuelle Kriegstreiben erweiterten Texten beginnt der dann nur vierstündige Abend mit "Agamemnon" von Aischylos, gefolgt von "Elektra" des Sophokles. Aischylos wird im dritten Teil mit den "Eumeniden" erneut aufgerufen für die zentrale Szene: Der Prozess gegen Orest (Sebastian Zimmler).
Die Anklage ist durch die Erynnien vertreten, und die Sprecherin der Rachegöttinnen ist eine zäh und energisch auftretende Barbara Nüsse: Einen Müttermörder dürfe man nicht begnadigen.
Verteidiger ist Gott Apoll (Sebastian Rudolph), der freilich einräumen muss, selbst der Anstifter der Tat zu sein. Seine Position ist "Ausgleich durch Vergebung", um den ewigen Kreislauf der Blutrache zum Stillstand zu bringen.

Das Publikum darf als Geschworene mitmachen. Am Premierenabend war es mehrheitlich dem Täter gewogen. Nicolas Stemann als nicht durchweg mitreißende Entertainer-Simulation entschuldigt sich für die umständliche Prozedur, "denn wir machen das zum ersten Mal" wie damals die Athener. Nach dem sehr spröde geratenen Gerichtsdrama ist es ohnehin völlig gleichgültig, was das Volk entscheidet, denn Stemann lässt weiterhin Euripides spielen.
Dort kommt es hingegen zur Stimmengleichheit. Jetzt kann Athene (Patrycia Ziolkowska) als First Lady auf dem Olymp ihren Trumpf ausspielen und mit ihrem göttlichem Votum zugunsten des Angeklagten stimmen. Das bedeutet freilich nicht den Sieg des demokratischen Rechtsstaats, denn schon Platon und Aristoteles argwöhnten, dass einer Demokratie eine Tyrannei folgen könne.

Den kurzen Weg ins Heute - mit den Kriegsschauplätzen in der Ukraine, im Gaza-Streifen oder dem Sturm aufs Kapitol Anfang 2021 - illustrieren die Fotos, mit denen der gigantisch rückwandfüllende Setzkasten, den Bühnenbildnerin Katrin Nottrodt hinstellte, vom Chor tapeziert wird.
Doch der großer Plan, die Diskurse unserer Gegenwart über Frieden und Gerechtigkeit und die daraus erwachsenden Dilemmata einer Gesellschaft zu spiegeln, die Europa gerade erst erfindet, gerät zu oft aus dem Blick.
Trash, Klamauk und kaum Raum für Schauspielkunst
Nicolas Stemann kann nicht ohne Trash, wie etwa die wenig lustige Talkshow-Parodie "Menschen bei Aischberger". Solche einfach nur schlecht gemachten Versuche, nicht nur aufklärerisch, sondern auch komisch zu sein, gehen nicht zuletzt auf Kosten der fünf Schauspielerinnen und Schauspieler aus dem Ensemble des Hamburger Thalia-Theaters, wo die Produktion ab Herbst weiter gespielt werden wird.
Nur Julia Riedler wird ein Viertelstündchen gegönnt, um das Format zu zeigen, an das Münchner sich von ihrer Zeit an den Kammerspielen erinnern können. Ihr Solo als Elektra, die nicht nur Trauer trägt, sondern sich selbstzerstörerisch von dieser Trauer auch zu distanzieren versucht, ist einer der wenigen grandiosen Schauspielmomente in einem Wald aus Zaunpfählen, mit denen ein Regisseur in der Rolle des Gscheithaferls unablässig winkt.
Die finale Szene inklusive Apolls Deus-ex-Machina-Auftritt verliert sich vollends im Klamauk. Im Strizzi-Look aus der Vorstadt (oder wie man sich das in Theatern so vorstellt) erklärt er, dass man unter Göttern von den Menschen ziemlich genervt sei. Aber das Satyrspiel findet dann zu einem überraschend gelungenen Funken Satire, wenn Apoll mit maliziösem Grinsen der an sich selbst scheiternden Menschheit Mut macht: "Ihr schafft das schon. Toitoitoi!"
Perner-Insel Hallein, wieder am 5, 9., 11., 12., 13., 15. August, 19 Uhr, Karten online unter salzburgfestival.at oder Telefon +43662 8045500