"Hungry Ghosts" in den Kammerspielen: Was wir in uns tragen

Eine Theatergruppe probt ein Stück, in dem alle Register einer Farce gezogen werden: mit einer Ehefrau, die eine Affäre mit dem Nachbarn hat, mit boulevardesker Tür-auf-Tür-zu-Komik und virtuosen Slapstick-Einlagen. Es entwickelt sich aber bald in eine andere Richtung: Denn die Kopfschmerzen von Hauptdarstellerin Charlotte könnten von vererbten Traumata herrühren. Epigenetik heißt das biologische Fachgebiet, in das "Hungry Ghosts" eintaucht.
AZ: Frau Smolar, der Titel "Hungry Ghosts" bezieht sich auf ein Buch des Arztes Gabor Maté, in dem er sich mit den Lebensgeschichten seiner Suchtpatienten beschäftigt und die Frage untersucht, inwiefern die Sucht sich auf genetische Veranlagungen zurückführen lässt.
ANNA SMOLAR: Ja, wobei der Titel auch auf eine Vorstellung in der chinesischen Tradition und im Buddhismus anspielt: dass es Wesen gibt, die zwischen den Welten existieren und die von dem Verlangen angetrieben werden, Teile der menschlichen Seele zu verzehren. Ich hielt diesen Titel für einen guten, poetischen Ausgangspunkt, um mit dem Publikum in einen Dialog über ein Thema zu treten, dass wir dann vor allem auch wissenschaftlich betrachten wollen. Die wissenschaftliche Erkenntnis, dass Traumata über Generationen hinweg vererbt werden können, gibt es ja schon seit Jahren, die sollten wir auch anerkennen. Durch die Epigenetik können sich sehr viele Fenster zu einem besseren Verständnis der eigenen Individualität öffnen, dass das Ich sowohl im Kontext der eigenen Familie betrachtet werden kann, als auch in größeren kulturellen, sozialen und politischen Kontexten.
Was kollektive Traumata angeht, werden diese gerne verdrängt.
Ja, ich denke, dass es in Ländern wie Deutschland, Frankreich oder Polen, in Europa insgesamt wichtig ist, sich die Frage zu stellen: Wie behandeln wir das Thema Trauma im Kollektiv und was passiert, wenn wir das nicht tun? Ich wollte dabei nicht in eine Art von politischer Konfrontation gehen. Stattdessen möchten wir dem Publikum einen gemeinschaftlichen Raum bieten, der offen für eigene Gedanken und Interpretationen ist.
Mit den Signalen, die der Körper aussendet, kann auch eine gewisse Unsicherheit einhergehen. Charlotte glaubt zum Beispiel, dass sie nicht an einem Trauma leidet, sondern einfach Migräne hat.
Wir können uns nun mal nie sicher sein. Wenn aber jemand auf eine Situation überproportional stark körperlich oder emotional reagiert, lässt das doch darauf schließen, dass diese Reaktion womöglich einen tieferen Grund hat, der vielleicht ein oder mehrere Generationen zurückliegt. Es ergeben sich im Stück auch Zweifel und Widerstand gegenüber der Epigenetik, aber es gibt doch einige tragfähige Studien. Rachel Yehuda, eine Pionierin der Epigenetik, hat Holocaust-Überlebende und insbesondere deren Kinder untersucht und fand Beweise dafür, dass sich posttraumatischer Stress von Generation zu Generation übertragen kann. Sie beschäftigte sich zudem mit Frauen, die während der Anschläge von 9/11 schwanger waren und deren Kinder sich dann später besonders anfällig für Stress zeigten.
Die Komplexität des Themas wurde aufs Bühnenbild übertragen
Wobei Stress ja ein allgegenwärtiges Zeitphänomen ist, das über Traumatisierte hinausgeht.
Klar, man könnte sagen, dass viele von uns an Stress leiden, weil das Leben stressiger geworden ist, durch das Internet, durch die Klima-Katastrophe, durch all die Krisen, die uns heute belasten. Einfache Antworten gibt es nun mal nicht, Trauma ist eine der komplexesten Strukturen, die man sich überhaupt vorstellen kann. Diese Komplexität hat uns auch für das Bühnenbild inspiriert: ein Bild zu schaffen, das ab einem gewissen Punkt zerbricht, das irgendwann anfängt, nicht mehr linear und logisch zu sein.
Ihr Ensemble spielt in diesem Bühnenbild eine Schauspieltruppe, die an einer Komödie probt. Das Ganze ist als Farce angelegt – womit das an sich schwere Thema Trauma ausbalanciert wird?
Mit der Farce schaffen wir ein Gegengewicht, natürlich. Aber es geht auch darum, zu zeigen, wie die meisten von uns im alltäglichen Leben funktionieren. Dass es eine saubere, glänzende Oberfläche gibt, die alle aufrechterhalten wollen. Darunter liegt aber etwas, das stinkt und haarig und feucht und verrückt ist, etwas, was alle versteckt halten wollen. Insofern ist die Farce der wunderbar strahlende Diamant, unter dem sich diese untergründige Welt verbirgt.
In welcher Figur finden Sie sich selbst am meisten wieder? In dem Regisseur, der während der Probe Sätze wie "Mach nochmal" oder "Bleib drin!" sagt?
Nein. In Charlotte.
Wieso?
Weil ich selbst an einem bestimmten Punkt in meinem Leben gesundheitliche Probleme bekommen habe. Plötzlich hatte ich Probleme mit meinem Gehör – es war völlig rätselhaft. Ein Arzt gab mir dann eine Diagnose, die nicht wirklich eine Diagnose war: "Wir werden die Antwort auf Ihr Problem erst dann haben, wenn Sie tot sind und wir eine Obduktion machen können."
Das klingt ja sehr hilfreich.
Ja. Ich habe dann einen Therapeuten aufgesucht, der zu mir meinte: "Identifizieren Sie sich bitte nicht zu sehr mit dieser Diagnose, nehmen Sie sich erstmal Zeit!” Also habe ich mir Zeit genommen und las ein paar Bücher über Epigenetik. Ich hatte gerade an einer Performance gearbeitet, die von der antisemitischen Kampagne in Polen im März 1968 handelte, was meine Eltern damals veranlasste, das Land zu verlassen – wobei mein Vater im Gefängnis landete. Dieser ganze Themenkomplex jüdisches Trauma beschäftigte mich also bereits, und vielleicht hat ja auch mein Körper auf den ganzen Perfektionsdruck reagiert, den ich mir selbst als Mutter und als Künstlerin machte. Als ich mich dann näher mit Epigenetik auseinandersetzte, fühlte ich mich erleichtert bei dem Gedanken, dass ich über mich auch in einem größeren Rahmen nachdenken kann, dass es eine Kontinuität zu meinen Vorfahren gibt. Meine Hörprobleme sind übrigens nach wenigen Monaten einfach verschwunden.
Nach ersten Gesprächen mit dem Ensemble wurde improvisiert
Sie wuchsen in Frankreich auf…
… und ich habe dort studiert. Ich fühlte mich stark getrennt von meinen polnischen-jüdischen Wurzeln und den Leiden des Holocaust, wobei ein großer Teil meiner Familie in dieser Zeit ermordet wurde. Als ich später für meine Theaterarbeit nach Polen zurückkehrte, fühlte ich das Bedürfnis, mich mit meiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Es hat sich gut angefühlt, dass diese Figuren aus der Vergangenheit für mich wieder präsent wurden. Diese Erkenntnis liegt für mich auch in dieser Performance: Je mehr man seinen Blick ausweitet, desto weniger spielt die Frage nach der Schuld eine Rolle und umso mehr bekommt man eine Chance, sich mit seiner Vergangenheit zu verbinden.
Sie arbeiten immer stark mit dem Ensemble zusammen. Haben die Schauspieler auch Texte geschrieben?
Nein, es ist eher so, dass ich eine Struktur und bestimmte Charaktere vorschlage und wir dann erstmal gemeinsam über diese Vorschläge reden. Nach den ersten Gesprächen haben wir basierend auf dem Material improvisiert. Dabei kommen auch Themen auf, an die ich vorher gar nicht gedacht habe. Und dann ist es so, als ob man eine Plastik formt.
Wie definieren Sie für sich Ihre Autorität als Regisseurin?
Die Hauptverantwortung trage letztlich ich. Ich fälle die meisten Entscheidungen, wobei ich jederzeit offen für Kritik und Anregungen bleibe.
Peter, der Regisseur im Stück, fragt sich zwischendurch, ob er nicht zu höflich zu seinen Schauspielern ist. Fragen Sie sich das auch?
Ja, immer. Ich frage mich vor allem, ob ich mich nicht zu sehr um das Wohlergehen aller sorge. Ich liebe es einfach, wenn die Leute um mich herum, nicht nur die Schauspieler, zufrieden mit der gemeinsamen Arbeit sind, weil ich auch der Utopie nachhänge, dass der Arbeitsplatz ein Ort für gesunde Beziehungen sein kann. Und manchmal ist das sogar wichtiger als die Frage, ob die Performance ein Erfolg wird. Gesunde Arbeitsbeziehungen zu schaffen erscheint mir als ein Weg, um kollektive Traumata zu heilen.
Premiere am 22. Oktober, 20 Uhr im Schauspielhaus. Es gibt noch Karten, www.muenchner-kammerspiele.de