"Heute ist morgen": Wenn Tänzer Dampf ablassen

München - Das Bayerische Staatsballett legt noch einmal richtig los. Drei gelungene Uraufführungen umfasst der kompakte Abend "Heute ist Morgen" zum Auftakt der Opernfestspiele.
Ein emotional schrilles Stück
Für sein choreografisches Erstlingswerk hat der Erste Solist Jonah Cook den Titel "Played" gewählt. War der junge Brite bislang für eindrücklichen Tanz quer durch alle Stile bekannt, wirft er nun zu Musik von Mikael Tariverdiev, Neil Young und Elvis Presleys' "Are you Lonesome Tonight?" ein emotional schrilles, lebensgefühliges Stück in den Ring, das von seiner gewitzten Machart und erzählerischen Herangehensweise her in die Richtung des Hauschoreografen Andrey Kaydanovskiy weist.
Kurze Duette und sexy Partyklamotten
Mit seiner etwas surrealen Anmutung fügt sich Cooks 15-Minüter gut zwischen Özkan Ayiks "Dunkelgrau" und "To get to become" von Philippe Kratz. Er baut auf Persönlichkeiten und scheut sich nicht, seinen Protagonisten waghalsige, ja regelrecht dahingeschleuderte Hebungen und tendenziell akrobatisches Partnering abzuverlangen. Das ergibt dann kurze Duette, die fließend ein Sofa miteinbinden, während hinten sexy Partyklamotten an einer fahrbaren Kleiderstange hängen.
So cool kann Ballett sein
Ksenia Ryzhkova, Florian Ulrich Sollfrank, Bianca Teixeira, Alexei Dobikov und Cook selbst geben sich - herrlich lässig, verworren begehrlich bis lasziv und im Beziehungsbeenden fies - in einer Art rockvernarrten Clique Varianten zwischenmenschlichen Miteinander-Spielens hin. Dabei geht es ziemlich manipulativ zu. Ballett kann so schräg und cool sein!
Eine Plattform für den Nachwuchs
Das dreiteilige Format, das früher schlicht "Junge Choreografen" hieß, ist als Plattform für den Nachwuchs und dessen schöpferische Fortschreibung der Traditionen am Puls der Zeit gedacht. Beim Publikum kommt die aktuelle Ausgabe zu Recht blendend an. Das wirkt am Ende dieser in mehrfacher Hinsicht turbulenten Spielzeit fast wie ein Befreiungsschlag. Schließlich gilt es, nicht bloß an Traditionen festzuhalten, sondern zugleich die Fühler Richtung Zukunft auszustrecken.
Hausdebüt mit Verspätung
Wie top das funktioniert, zeigen neben Cook einmal mehr Özkan Ayik - und Philippe Kratz mit seinem fulminanten, pandemiebedingt um zwei Jahre verschobenen Hausdebüt, das auf bestimmten, oft wiederkehrenden Schrittmustern beruht. Ihre jeweils handverlesenen Tänzer können fabelhaft wortlos von Zuständen des diffusen "Dazwischen" (Ayik: "Dunkelgrau") erzählen und der Möglichkeit, etwas aus sich zu machen, oder der notwendigen Loslösung von familiären Seilschaften (Kratz: "To get to become").
Dampfablassen
Dass jedes Stück von motorischem Druck beziehungsweise Dampfablassen zeugt, mag dem kreativen Zufall geschuldet sein. Bei Ayik schimmert der Einfluss seines Lieblingschoreografen Marco Goecke durch, in dessen Ensemble am Staatstheater Hannover er seit 2019 Mitglied ist.
Das inhaltlich Unbestimmte, wenn acht Tänzerinnen und Tänzer sich unter anderem zu Musik der Band "The Vernon Spring" zur Gruppe staffeln und wieder verteilen, nimmt dennoch sehr eigen an Fahrt auf - ebenso wie Ayiks innerlich motiviertes Herausarbeiten von Unentschiedenheit und einer permanent spannungsgeladenen Leere.
Ein sogartiger Bewegungsduktus
Nicht minder berauschend ist Kratz' siebenköpfige, oft plattfüßig im Trippelmodus dahingleitende Tänzercrew. "To get to become" (Musik: Gabriels, Mika Vainio) besticht durch noch intensiveren Einsatz von Nebelwolken, Lichtstimmungen und raffiniert wechselnden Konstellationen von Körpern im Raum mittels eines geheimnisvoll dynamischen, sogartigen Bewegungsduktus. Welche der drei Choreografien wird Münchens neuer Ballettchef Laurent Hilaire zum Saisonstart in "Herzkammern" (17./18. September) neben Sharon Eyals "Bedroom Folk" präsentieren? Er hat die Qual der Wahl.
Noch einmal am 27. Juni um 19.30 Uhr im Prinzregententheater. Karten unter Tel. 089 21 85 19 20