"Herz aus Glas" im Marstall: Ein Querdenker aus dem Wald

In Werner Herzogs esoterisch angehauchtem Film von 1976 spielten (angeblich) hypnotisch verlangsamte Schauspieler. Wer sich heute an "Herz aus Glas" wagt, wird angesichts der Dauertrance schnell ungeduldig. Elsa-Sophie Jach hat die im letzten Satz ihrer Bühnenfassung erwähnte Peitsche in die Hand genommen: Nicht, um auf dem Boden klopfend zu verkünden, dass hier die längst untergegangene, "große Straubinger Stadt" gestanden habe, sondern um Herbert Achternbuschs Drehbuch auf das Tempo des 21. Jahrhunderts zu beschleunigen, was ihr im Marstall virtuos gelungen ist.
"Herz aus Glas" erzählt vom Mühlhiasl. Dieser niederbayerische Nostradamus soll vor 200 Jahren nicht nur beide Weltkriege und die Naziherrschaft, sondern mit den Worten "Wald wird so licht werden wie dem Bettelmann sein Rock" auch das Waldsterben vorhergesagt haben.
Der "Hias" wechselt das Geschlecht - und das funktioniert
Das Ensemble des Bayerischen Staatsschauspiels bringt den Namen "Hias" nur sehr gebrochen über die Lippen. Damit niemand an Josef Bierbichler denkt, der bei Herzog vom Weltende raunte, hat der Waldprophet das Geschlecht getauscht. Und das funktioniert überraschend gut.
Pia Händlers Hias ist eine bockige, rothaarige junge Frau in Schwarz. Die Außenseiterin unter den Bühnenfiguren ist in Wahrheit die einzige halbwegs Normale: Michael Goldberg, Evelyne Gugolz, Nicola Kirsch, Thomas Reisinger, Noah Saavedra und Moritz tragen jede Individualität raubende Allongeperücken, sprechen Szenenanweisungen im Chor und verrennen sich bei der Suche nach dem verlorenen Rezept der Rubinglasherstellung.
Zuletzt steht die Glashütte in Flammen, während der Mühlhiasl wie Richard Wagner den Brand von Paris nebst anschließender Götterdämmerung imaginiert. Achternbuschs Drehbuch - frei nach einem Heimatroman von Paul Friedl - spiegelt wie Herzogs Film die neuromantische Katerstimmung nach der Studentenrevolte und die Fortschrittsskepsis im Gefolge der Veröffentlichung des Berichts "Die Grenzen des Wachstums" durch den Club of Rome.
Der Mühlhiasl: Mischung aus Halbwahrheit und Wahn
Die Inszenierung stellt das durch eine mal vorwärts, mal rückwärts laufende Uhr und eine kraftvoll deklamierte Absage an die Linearität der Zeit. Natürlich stellen sich heute Assoziationen zur Klimadebatte ein. Aber das geht nur halb auf, weil die Erwärmung Niederbayerns für den Mühlhiasl viel Schönes hat, wenn er von der Renaissance des Weinanbaus und exotischen Früchten fabuliert. Letztendlich bringt er mit seiner Mischung aus Halbwahrheit und Wahn seine verunsicherte Umwelt ganz auf den Hund. Und so erweist der sich als Vorläufer heutiger Querdenker und Neinsager, was die Aufführung als Gedanken zulässt, ohne dem Zuschauer diese Deutung aufzudrängen.
Marlene Lockemann hat mit sparsamen Mitteln eine Glasfabrik auf die Bühne gestellt. Samuel Wootton untermalt die präzise Wortchoreografie am gläsern tönenden Vibrafon und anderen Schlaginstrumenten mit Exkursen in Richtung Singspiel und Techno (Musik: Max Kühn). Die Inszenierung schnurrt wie ein Uhrwerk. Wer den Film kennt, wird die Kunstfertigkeit bewundern, mit der sich Elsa-Sophie Jach von Herzogs schwurbeligem Film entfernt, um Achternbuschs Drehbuch ins Heute zu retten. Für Unvorbereitete dürften die äußeren Reize dieses Totentanzes unterhaltsam genug sein, um 90 pausenlose Minuten zu tragen.
Marstall, wieder am 16., 25. und 29. Juli, Karten telefonisch unter 089/21851940