Herakles im Wortgeröll

Die bulgarische Regielegende Dimiter Gotscheff inszeniert am Residenztheater ein Stück Heiner Müllers – am Sonntag hat „Zement“ Premiere
Michael Stadler |
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In einem Ost-Berliner Restaurant traf Dimiter Gotscheff erstmals auf Heiner Müller, 1964 war das, und die sich damals entzündende Leidenschaft sollte über den Tod Müllers 1995 hinausgehen. Heute inszeniert Gotscheff als einer der wenigen in Deutschland Müller-Stücke. Nun ist er erstmals in München, um „Zement“ auf die Bühne des Residenztheaters zu bringen, mit zwei seiner Stammschauspieler, Bibiana Beglau und Sebastian Blomberg. Premiere ist Sonntag, 19 Uhr.

AZ: Herr Gotscheff, Heiner Müller zu inszenieren, ist wohl immer ein Kampf.

DIMITER GOTSCHEFF: Ja, aber es ist auch eine lustvolle Begegnung mit großen Texten. Die Schwierigkeit ist dabei erst mal, dass man die Theaterleitung überzeugen muss, dass Müller noch nicht gestorben ist. Ich trage „Zement“ seit 40 Jahren mit mir herum.

In München konnten Sie das Residenztheater überzeugen.

Ja, da staunte ich, als Martin Kušej sofort positiv reagierte. Ich habe diesen Text dem Deutschen Theater Berlin vorgeschlagen, ich wollte ihn auch schon vor 20 Jahren bei Castorf machen. Aber hier in München, das ist schon ein Ding.

Vielleicht wird es so selten gespielt, weil der Kommunismus schon vor Jahrzehnten als Utopie scheiterte.

Sicher. Daher kommen die Absagen. Das ist aber nicht mein Problem. Ich habe den Sozialismus noch nicht begraben. Der Kapitalismus ist einer der vorletzten Sieger. Es kommen sicher auch noch andere.

Es gibt im Stück eine Passage, da wird der Mythos von Prometheus von Müller weitergedacht. Prometheus, dessen ständig nachwachsende Leber ein Adler frisst, wird von Herakles in einer Jahrtausende dauernden Aktion gerettet. Prometheus weint jedoch um den getöteten Adler. Er fürchtet die Freiheit. Liegt darin der Kern des ganzen Stücks?

Kann man sicher so sehen. Es ist auch entscheidend, dass Prometheus bei seiner Rückkehr auf die Schultern von Herakles steigt und als Sieger der jubelnden Bevölkerung entgegen reitet, ohne einen Verdienst an der Befreiung zu haben. Der richtige Arbeiter ist Herakles. Ich finde aber eher, dass das Wesen des Stücks in dem Teil „Herakles 2 oder die Hydra“ getroffen wird. Müller reflektiert darin Tschumalows Kampf und generell den Kampf des Einzelnen um seine Selbstbestätigung in der Gesellschaft.

Was zeitlos klingt: Es wird ein Mensch in einem System gezeigt, für das und mit dem er kämpft, in dem er letztlich nur scheitern kann.

Ob man nun im Kapitalismus kämpft oder im Sozialismus, wo ist der Unterschied? Kampf ist Kampf. Im Russland der Zwanzigerjahre sind die großen gesellschaftlichen Utopien entworfen worden. Damals gab es einen kurzen Augenblick, wo die Menschheit eine Utopie geträumt hat. Ich will das nicht verdrängen oder vergessen. Was Müller stark angetrieben hat, war, dass der Dialog mit den Toten nicht aufhören soll. Nur in der Begegnung mit den Toten kann man auch Zukunft schöpfen.

Dascha, die Frau von Tschumalow, ist eine Figur, die Müller in diese Vergangenheit ansiedelt. Gleichzeitig kann man in ihr auch die emanzipierte Frau der Siebziger spüren.

Sie ist für meine Begriffe eine der kräftigsten Frauenfiguren überhaupt in der Weltdramaturgie. Was Müller mit Dascha zeigt, ist das Drama der emanzipierten Frau. Dieser Kampf ist längst nicht zu Ende. Mich beeindruckt auch sehr, wie er diese Frau in Russland in Verbindung mit der Medea setzt. Das ist das Einzigartige bei ihm, wie er seine Figuren in antiken Tiefen verwurzelt.

Wenn Sie diesem Text als leidenschaftlicher Müller-Regisseur begegnen – gibt es dennoch Stellen, bei denen Sie sagen, die gefällt mir nicht, also nehme ich sie heraus?

Sicher machen wir eine eigene Fassung. Wir verankern das Stück nicht so sehr im sozialistischen Milieu, Müller wollte das auch nicht. Wir versuchen, die Substanz des Stücks zu erarbeiten. Müller hat Material fürs Theater geschrieben. Es ist ein Geröll. Wir schieben gerade die Brocken hin und her.

Und das, ganz typisch für Sie, auf einer leeren Bühne, die viel Raum für den Text gibt.

Und für die Schauspieler. Mehr braucht man nicht im Theater. Paar Bretter, Schauspieler und Text.

Noch mal zurück zu Prometheus. Da steht, dass er sich gegen den Abstieg vom Felsen sperrt, „wie ein Schauspieler sich sperrt, die Bühne zu verlassen“. Sie feierten letzten Freitag Ihren 70. Geburtstag – und probten an diesem Tag.

Ja, wo soll ich denn sonst hin? Wenn solche Stücke da sind, so ein Geröll an Worten und solche tollen Schauspieler, dann ist das meine Heimat. Es ist schön, mit einem Müller-Text zu feiern.

Premiere am Sonntag, 5.5., 19 Uhr, Karten Tel.: 2185 1940

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