Heiner Müllers "Philoktet" am Bayerischen Staatsschauspiel
Am Ende spendete schließlich Schauspieler Aurel Manthei seinerseits dem enthusiastischen Premierenpublikum Beifall sowohl für den lang anhaltenden Applaus als auch für eine zwei Stunden währende, fast atemlose Aufmerksamkeit. Denn Heiner Müllers „Philoktet“ ist alles anderes als leichte Kost und steht schon immer in dem unvorteilhaften Ruf, mehr Lesedrama als Schauspiel zu sein.
Der bulgarische Regisseur Ivan Panteleev zeigt das Drama jetzt im Cuvilliéstheater als abstrakte, aber intensive Sprechoper und verzichtet sogar auf Requisiten. Selbst der Bogen, um den alles geht, bleibt der Vorstellungskraft des Zuschauers überlassen.
Der unfehlbare Bogen mit seinen giftigen Pfeilen gehört Philoktet. Den brauchen die Griechen dringend, um endlich den Krieg um Troja entscheiden zu können. Aber Philoktet verweigert sich: Vor zehn Jahre hatten ihn seine Kameraden, angeführt von Odysseus, auf der Insel Lemnos ausgesetzt, weil sie die Schmerzensschreie des Verletzten und den Gestank seiner Wunde nicht ertrugen. Das nimmt der Scharfschütze mit seinem bis heute schwärenden Schlangenbiss am Fuß noch immer übel. Aber Odysseus wäre nicht als „der Listenreiche“ in die Mythologie eingegangen, würde ihm die heikle Mission am Ende nicht doch gelingen.
Natürlich gibt es Opfer, denn wir sind im Krieg: Der junge Neoptolemos, den Odysseus wie einen Köder vorausschickt, verliert seine Unschuld als idealistischer Kämpfer für die gute Sache, nachdem er Philoktet mit Lügen zur Abgabe seiner Waffe überredet und ihn schließlich hinterrücks ermordet hat. Und mit dem Toten hat Odysseus nicht nur die Wunderwaffe, sondern auch ein Propagandamittel – der Mord an Philoktet kann den Trojanern in die Schuhe geschoben werden.
Kalter und heißer Krieg
Der „Philoktet“ des einige Jahre zuvor vom Schriftstellerverband der DDR geächteten Heiner Müller wurde 1968 von Hans Lietzau im Residenztheater mit Helmut Griem in der Titelrolle uraufgeführt. Der Mauerbau lag noch nicht lange zurück und es herrschte Kalter Krieg.
Heute, 47 Jahre später, finden vor Europas Toren mehrere heiße Kriege statt. Ausstatter Johannes Schütz findet in seinem ansonsten völlig kahlen Bühnenraum für diesen schwebenden, immer in Bewegung bleibenden Zustand ein verblüffendes Bild: Ein Mobile, schwankend ausbalanciert von einem ballonartigen Leuchtkörper und Philoktets stark stilisierter Behausung. Den Boden bedecken die Federn der Geier, von denen sich der Inselbewohner ernährt.
Ein Regisseur, der eine Bühne vor allem mit dem gesprochenen Wort möblieren will, ist auf Schauspieler angewiesen, die das wirklich können. Die hat er mit Aurel Manthei, Shenja Lacher und Franz Pätzold gefunden. Mit kristallener Präzision stellt das Trio jedes Wort wie in Marmor gemeißelt in den Raum.
Laut wird dabei nur der trotz seines Handicaps kraftstrotzende Philoktet Mantheis. Man kann ihm dabei zusehen, wie ihn der Hass auf seine ungebetenen Besucher allmählich mit Energie auflädt. Pätzold gibt dem unerfahrenen Neoptolemus mit knarzender Stimme etwas gefährlich Hilfloses. Und Lacher hat als vom langen Kriegführen ermüdeter, intellektuell aber hellwacher Politstratege Odysseus sogar einen komischen Moment, wenn er für seine Grabrede über Philoktets Leiche seine fuchsrote Perücke abnimmt wie einen Helm.
Cuvilliéstheater, 19. Dezember, 9., 11. Januar, 19.30 Uhr, Telefon 21851940