Hat Tara Erraught wirklich eine „schwer handhabbare Figur“?
Jeder Künstler weiß oder sollte wissen, dass es Kritikern um die Sache geht und nicht um persönliche Beleidigungen. Trotzdem rutschen uns mal Formulierungen durch, die auf der Gegenseite Schmerzen auslösen. Was sich britische Kollegen allerdings nach dem neuen „Rosenkavalier“ bei den Festspielen im britischen Glyndebourne geleistet haben, kann man nicht unwidersprochen durchgehen lassen.
Sie besitze eine „schwer handhabbare Figur“, sei ein „molliges Bündel Babyspeck“ und deshalb eine Fehlbesetzung. Ein dritter fand Tara Erraught in der Rolle des Octavian gar „unglaublich, unansehnlich, unattraktiv“.
Und das stand nicht etwa in „The Sun“, sondern in der „Financial Times“, der „Times“ und dem „Telegraph“ – lauter ehrwürdigen Qualitätsblättern, die übrigens ausschließlich männliche Rezensenten entsandt hatten, die sich ungewöhnlich einhellig boshaft über eine Sängerin äußerten. Erraught ist in München als Ensemblemitglied der Staatsoper wohl bekannt, seit sie 2011 kurzfristig als Romeo in der Premiere von Bellinis „I Capuleti e i Montecchi“ einsprang. Im Nationaltheater sang sie den Hänsel in Humperdincks Märchenoper, Rossinis Cenerentola und zuletzt den Sesto in Mozarts „La clemenza di Tito“ – lauter Hosenrollen wie den Octavian, mit denen eine Mezzosopranistin einen jungen Mann darstellt.
Pavarotti hätte heute keine Chance mehr
Erraught mag nicht die Figur eines Models haben, aber dick, wie die Briten finden, ist sie gewiss nicht. Die Verrisse lösten prompt Gegenkritik aus: Norman Lebrecht, einer der bekanntesten Klassik-Journalisten Großbritanniens, veröffentlichte in seinem Blog einen offenen Protestbrief, in dem die Sängerin Alice Coote ihrer Kollegin beisprang: „Seid nett zu jungen Sängern“, forderte sie die Kritiker auf, „ihr könnt Leben und Karrieren verändern, wenn ihr sie mit euren Worten verletzt.“
Es mag sein, dass das Kostüm in der Inszenierung von Richard Jones die Sängerin unvorteilhaft erscheinen ließ. Aber die unterschwellige Forderung, dass jeder stimmbegabte Mensch auch noch dem erotischen Knusprigkeitsideal des jeweiligen Kritikers entsprechen müsse, ist unverschämt. Pavarotti hätte heute keine Chance mehr.