Halbzeit beim Theaterfestival
Ein Mann, ein Stuhl und ein Text. Mehr braucht es nicht für eine intensive Performance. Zumindest in diesem Fall nicht. Boris Nikitin, von Beruf Regisseur und Autor, stellt sich für seinen "Versuch über das Sterben" erstmals selbst auf eine Bühne, beziehungsweise, er setzt sich auf den Stuhl und liest von ein paar bedruckten Blättern einen Text vor, den er nach dem Tod seines Vaters geschrieben hat.
Es geht genau um diesen Vater, um sein Sterben, aber auch das Leben zuvor und die Assoziationen, die beim Sohn während des Schreibens entstanden. Ein sportlicher Mann sei der Vater gewesen, erzählt Nikitin. Man kann es insofern als böse Ironie des Schicksals empfinden, dass dieser vitale Mensch an der Nervenkrankheit ALS erkrankte und immer weniger seinen Körper kontrollieren konnte. Minimal und umso gewichtiger sind nun die Bewegungen Nikitins: ab und an ein unruhiges Herumrutschen auf dem Stuhl, ein paar längere Blicke ins Publikum, ein Ausschütteln der Hand.
Viel privater Schmerz
Nikitin fächert den Begriff des "Coming out" auf, macht ihn wirksam für alle möglichen persönlichen Eröffnungen. So hatte er als junger Mann eine Affäre mit einem wesentlich älteren Schauspieler und entschloss sich im Dunstkreis dieser Erfahrung, seinem Vater endlich zu erzählen, dass er schwul ist.
Später offenbarte der nun schwer erkrankte Vater seiner Familie, dass er mit dem Gedanken spiele, attestiert von der Sterbehilfe-Organisation Exit sich selbst das Leben zu nehmen. Den Effekt eines Coming outs beschreibt Nikitin als "erleichternd" – und öffnet sich also auch noch dem Publikum.
Insgesamt ist beim diesjährigen Spielart-Festival zu beobachten, dass das Mitteilen von Geschichten, vor allem von privatem Schmerz, sehr viel Raum einnimmt. Dabei wirken einige der eingeladenen Performances komplementär, spiegeln sich trotz ihrer verschiedenen ästhetischen Formen, als habe Spielart-Kuratorin Sophie Becker bei ihrer Auswahl bewusst nach inhaltlichen Assonanzen gesucht.
So beschäftigt sich Sofia Dinger aus Lissabon in "A Song to Hear You Arriving" ebenfalls mit dem Tod ihres Vaters, aber ihr fehlen (zunächst) die Worte zur Verarbeitung. Im Einstein Kultur macht sie genau das, was Boris Nikitin im HochX eher vermeidet: Sie weint. Und zwar über einen Großteil der 50-minütigen Performance hinweg. Für eine Zeit lang erzeugt sie dazu mit einem Instrument Vogelgezwitscher; Klänge, die sie wohl ähnlich bei ihrem letzten Treffen mit dem Vater vernahm.
Gegen Verdrängen und Vergessen
Die privaten Töne und Einblicke, die sich über den Lauf des Festivals immer mehr häufen, dienen der Vergegenwärtigung vergangener Ereignisse und Bewusstmachung des heutigen Status quo; es ist ein Kampf gegen das Verdrängen und Vergessen. Zwei Performances, in denen versehrte weibliche Körper im Zentrum stehen, wurden sinnig zu einer Doppelvorstellung im Gasteig zusammengefasst.
In "My Body Belongs To Me" gruppieren sich sechs Frauen aus dem Sudan und aus Eritrea zu einer Solidargemeinschaft gegen die in Afrika weiterhin weit verbreitete Praxis der Genitalverstümmelung. Während dieses statischen Beisammenseins, inszeniert von der ägyptischen Theatermacherin Laila Soliman und dem Belgier Ruud Gielens, stimmen die Frauen Gesänge an, schöpfen aus ihren Kindheitserinnerungen und setzen dem Horror eines Brauches, der von den eigenen Großmüttern unterstützt wird, ihre Stärke entgegen. Da ist keine stille Depression, sondern munterer Widerstand.
Für einen künstlerischen Akt ist diese Erzähl-Revue ziemlich einfach gebaut. Die einnehmenden Bewegungen liefert aber sowieso Maria Domingos Tembe in ihrem "Solo für Maria" nach. Tembe hat keine Beine, entwickelt dennoch selbstbewusst ein eigenes Bewegungsvokabular, gibt die Ballerina im Tutu, bricht aber die Ballett-Harmonie bald auf. Dann zuckt sie konvulsivisch, als ob ihrem Körper unsichtbar Gewalt angetan wird, verhüllt sich spielerisch und bleibt am Boden ständig in Bewegung.
Ein offenes Ohr
Die weiblichen Körper – angegriffen, vergewaltigt, verstümmelt – heischen nicht um Mitleid, sondern bringen sich selbstbewusst in Position. In "Legacy" geht die an der Elfenbeinküste geborene Tänzerin und Choreografin Nadia Beugré von einem historischen Ereignis aus: dem dreißig Kilometer langen Marsch einer Gruppe von westafrikanischen Frauen im Jahr 1949, die damit gegen die Kolonialherren demonstrierten und sich für die Freilassung ihrer inhaftierten Ehemänner und Brüder einsetzten.
Für die zwei Aufführungen in der Muffathalle haben Beugré und Tanzkollegin Hanna Hedman einige Münchnerinnen rekrutiert, mit denen sie am Anfang eine auf der Stelle rennende, zunehmend schwitzende und sich entkleidende Frauengruppe bilden. Zur live eingespielten Musik von Manou Gallo entwickelt sich nach diesem Dauerlauf eine luftige, das Publikum freundlich, aber bestimmt zur Partizipation einladende Performance.
Ein Geflecht aus Büstenhaltern wird in die Höhe gezogen und ergibt einen idyllischen, weiblich markierten Bühnenhimmel. Einmal stellt sich eine junge Münchnerin auf den Rücken der auf allen Vieren knienden Nadia Beugré. Ein Sinnbild für den Kolonialismus, für die Unterdrückung durch die Weißen? Oder doch ein gemeinsamer Balance-Akt?
Frauen und Männer verschiedener Nationalität und Hautfarbe kommen hier ganz selbstverständlich friedlich zusammen. Der Abend fasert am Ende bewusst aus; die Performerinnen gehen ins Publikum, flüstern, beginnen zu erzählen – lauter Geschichten, die vom Gegenüber nur ein offenes Ohr fordern.
Weitere Geschichten gibt es zum Beispiel bei "Death and Birth in My Life" von Mats Staub zu hören (Lothringer 13, bis 8. 11., 19 bis 21.30 Uhr). Spielart geht bis zum 9.11., www.spielart.org
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