"Gott" im Residenztheater: Die letzte Entscheidung
Nach seinem ersten Theaterstück "Terror" (2015) hat Ferdinand von Schirach mit "Gott" (2020) ein weiteres dokumentarisch anmutendes Drama geschrieben, in dem es um existentielle Fragen geht: Ein 78 Jahre alter Mann möchte drei Jahre nach dem Tod seiner Frau sein eigenes Leben beenden. Ob er mit ärztlicher Hilfe sterben darf, wird bei einer fiktiven Sitzung des deutschen Ethikrats verhandelt. Dabei kommen Sachverständige aus dem Bereich der Justiz, der Medizin und Religion zu Wort. Am Ende darf das Theaterpublikum abstimmen: Selbstbestimmtes Sterben - ja oder nein?
"Gott" wurde am 10. September 2020 am Berliner Ensemble und am Düsseldorfer Schauspielhaus uraufgeführt. Im November wurde die Verfilmung des Stücks (mit Lars Eidinger als Anwalt) in der ARD gezeigt - und die Münchner Premiere sollte im Residenztheater stattfinden. Aber die Pandemie funkte damals dazwischen. In der Inszenierung von Max Färberböck plädiert - ähnlich wie in der Düsseldorfer Aufführung - eine Frau, gespielt von Charlotte Schwab, auf ihr Recht zu sterben. Ihr zur Seite steht Michael Wächter als Rechtsanwalt.
Was bedeutet es, wenn der Tod zur individuellen Entscheidung wird?
AZ: Herr Wächter, in unseren individualistischen Zeiten steht man dem selbstbestimmten Recht auf das eigene Sterben von Grund auf aufgeschlossen gegenüber, oder?
MICHAEL WÄCHTER: Doch, das könnte man schon sagen. In den ersten zwanzig Minuten des Stücks denkt man auch, ja, selbstverständlich darf die ihrem Leben ein Ende setzen. Selbstbestimmung, natürlich! Von Schirach macht das aber ganz geschickt, indem er im Laufe des Stücks von der einzelnen Person immer weiter herauszoomt: Was bedeutet das für uns als Gesellschaft, wenn der Tod zum Gegenstand einer individuellen Entscheidung wird? Werden dabei nicht auch andere in Mitleidenschaft gezogen? Öffnet das nicht Tür und Tor für Missbrauch? Ist man sein eigener Gott oder muss man sich selbst nicht auch immer in einem gesellschaftlichen Zusammenhang betrachten?
Es kommt zudem die Frage auf, ob die Entscheidung zu sterben nicht in einem Zustand der Depression gefällt wird.
Ja, und ob es nicht viel wichtiger ist, den Menschen aus dieser Depression zu helfen anstatt ihnen den Suizid leicht zu machen. Die Person in dem Stück ist ja auch gesund, aber nach dem Tod ihres Partners erachtet sie das Leben nicht mehr als lebenswert. Dass sie dabei auf ihr Recht auf Selbstbestimmung pocht, ist völlig nachvollziehbar, aber auch ein bisschen typisch für unsere Zeit: Dieser Individualismus nimmt durchaus überhand, zum Beispiel auch in unseren Beziehungen. Möchte man sowas wie "Beziehungsarbeit" noch auf sich nehmen oder trennt man sich nicht lieber gleich? Insofern stellt sich schon die Frage, in welchem Zustand man solche Entscheidungen trifft.
Welche Relevanz hat heute noch der Begriff "Sünde"?
Insgesamt hat man aber den Eindruck, dass der Autor eher auf der Seite der Person steht, die sterben möchte. Gerade die Auseinandersetzung des Anwalts mit dem Bischof entwickelt sich doch zu einer starken Attacke auf die Glaubwürdigkeit der Kirche.
Ja, den Eindruck habe ich auch. Die Kirche hat nun mal im Laufe der Geschichte an Glaubwürdigkeit verloren. Allein der Begriff der "Sünde" - welche Relevanz hat er? Da wurde der Baum der Erkenntnis gepflanzt, dann haben die Menschen von ihm gekostet und wurden von derselben Instanz, die diesen Anreiz geschaffen hat, bestraft. Solche Widersprüche deckt von Schirach auf und stellt die moralische Hoheit, die die Kirche für sich in Anspruch nimmt, in Frage.
Der Bischof meint auch, dass das Leben nun mal, im Gefolge von Jesus, einen Sinn im Leiden findet.
Ja, das ist schon sehr altmodisch. Und man fragt sich natürlich: Wieso sollte man dieses Kreuz auf sich nehmen? Am Ende hat aber der Bischof doch noch eine beispielhafte Geschichte auf Lager, die einen zum Nachdenken bringt. Ich möchte das an dieser Stelle nicht verraten, aber es bleibt eben die Frage, ob man die gesetzliche Hemmschwelle, sich selbst das Leben zu nehmen, wirklich senken sollte.
Tatsächlich hat die Wirklichkeit das Stück überholt, und es gibt bereits eine Entscheidung: Im Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe das Verbot organisierter Sterbehilfe gekippt.
Richtig. Damit hat von Schirach wohl nicht gerechnet, aber er hat dieses Urteil nachträglich eingearbeitet. Der Aktualität des Stücks hat das einen Dämpfer verpasst, die Debatte läuft jedoch weiter: Der Bundesgesundheitsminister lehnt die Herausgabe tödlicher Medikamente ab und boykottiert damit die Durchsetzung des Urteils - was wirklich ein einmaliger Vorgang ist. Für viele Betroffene ist das eine Katastrophe. Es gibt viele Dokumentationen über schwerkranke Menschen, deren körperlicher und geistiger Verfall deutlich sichtbar ist, denen aber gesagt wird, sie sollen weiterleiden. Auf der anderen Seite könnte auch ein schwer liebeskranker 18-Jähriger feststellen, dass er nicht mehr leben möchte. Da kommt das Recht auf Selbstbestimmung vielleicht an seine Grenzen.
"Es ist nun mal ein diskursiver Abend"
Wie macht man aus so einem Diskursstück lebendiges Theater?
Indem man sehr viel daran arbeitet. Wenn die einzelnen Argumente mit einem gewissen Feuer auf die Bühne gebracht werden, dann ist der Diskurs schon "lebendig". Einen Schwebemond haben wir nicht, auch keine Nebelmaschine - es ist nun mal ein diskursiver Abend. Ich finde es super, dass wir so ein Stück auf dem Spielplan haben. Und wir bemühen uns sehr, dass es nicht so klingt, dass hier Wikipedia-Seiten heruntergerattert werden, sondern dass das emotional mitreißend wird.
Der Anwalt hat auch etwas von einem Schauspieler, der vor einem bestimmten Publikum performt.
Und er verteidigt etwas, eine Position, einen Text. Stimmt, insofern gibt es eine gewisse Ähnlichkeit.
Sie sind Ensemblesprecher am Residenztheater, sozusagen der Anwalt für die Belange des gesamten Schauspielteams. Was treibt das Ensemble derzeit?
Vieles! Wir sind einfach ein unglaublich großer Haufen, über fünfzig Leute. Ich weiß gar nicht, wann wir uns allesamt mal vis-à-vis treffen konnten, allein das ist schon ein Thema. Eigentlich wächst ein Ensemble über die Zeit zusammen - indem man sich trifft, sich gegenseitig beschnuppert, sich austauscht. Durch die Pandemie konnte das alles gar nicht richtig stattfinden, insofern bräuchten wir alle mal eine richtig große Feier, zu der alle uneingeschränkt kommen dürfen. Und natürlich wollen wir Theater spielen! Allein das war in den letzten eineinhalb Jahren gar nicht oder nur begrenzt möglich.
Die Premiere war für Anfang Oktober 2020 geplant - dann stiegen die Infektionszahlen
Wann haben Sie "Gott" zum ersten Mal geprobt?
Im Oktober letzten Jahres. Die Premiere war für Anfang November angesetzt, aber in den letzten zwei Probenwochen haben wir schon gemerkt, dass das vermutlich nichts wird. Die Infektionszahlen gingen durch die Decke, in anderen Ländern wurde der Laden bereits dicht gemacht. Trotzdem haben wir das Stück intern bis zum Ende geprobt und es dann in die große Pausenkiste gesteckt.
Was hat das für einen Einfluss auf die Proben, wenn man quasi für die Tiefkühltruhe produziert?
Das ist einfach schrecklich - wie Trainieren ohne Wettkampf: Man kann sich hier noch stretchen und dort noch am Sprint arbeiten, aber wenn es keinen Wettkampf gibt, fühlt sich das alles nur halbgar an. Dieser ganze positive Stress, der sich kurz vor der Premiere einstellt, fehlt. Dabei ändert sich gerade in den letzten Tagen noch viel, wenn nicht alles! Man rennt aufs Ziel zu, die kreativen Kräfte werden freigesetzt. Wenn es diesen Horizont nicht gibt, zieht man die Endproben in aller Professionalität durch, aber über allem liegt so ein komischer Nebel.
Und dieser Nebel zieht sich bis in die Zuschauerränge.
Genau. Gähnende Leere im Zuschauerraum, beziehungsweise, es sitzen immer dieselben Leute da. Man bekommt kein Feedback vom Publikum. Es gibt nicht mal die zwei Bier nach der ersten Vorstellung, weil man sich ja nicht lange zusammen aufhalten darf. Stattdessen fährt man nach Hause und denkt sich, joh, das war's. Morgen kommt das nächste Stück.
"Man will ja wissen, wie die Leute reagieren"
Bei manchen Gerichten ist es ja gut, wenn man sie länger köcheln lässt. Vielleicht profitiert die Inszenierung davon, dass sie über so einen langen Zeitraum gereift ist?
Sie meinen, wie bei einer Spaghetti-Bolognese-Soße? Also, bei "Gott" hätte ich das nicht gebraucht. Es gibt Komödien, bei denen man sich denkt, das muss jetzt endlich raus. Man will ja wissen, wie die Leute reagieren, ob sie über die Pointen lachen. Jetzt gerade proben wir mit Simon Stone an "Unsere Zeit"…
…womit die nächste Saison höchstwahrscheinlich eröffnet wird…
… das könnte sein… und da merke ich schon, dass es ganz gut ist, wenn eine Rolle sich über eine gewisse Zeit setzen kann. Simon schreibt während der Proben kontinuierlich an den Texten, auch jetzt gerade, insofern entwickeln sich das Stück und die Figuren bei ihm sowieso immer weiter.
Die Pandemie hat einige Probleme mit sich gebracht. Aber letztlich genießen Sie das Privileg, Mitglied in einem Ensemble zu sein.
Absolut. Es ist ja fast schon pervers, wie groß diese Kluft ist zwischen Festangestellten und Freien. Und es macht auch einen Unterschied, ob man staatlich oder städtisch angestellt ist. Wir sind da die Kirsche auf der Sahnetorte. Das ist uns allen auch bewusst.
Trotzdem ist die Zukunft des Theaters gerade sehr ungewiss. In den Kammerspielen bangt man um den eigenen Etat und auch am Residenztheater könnte es zu Sparrunden kommen.
Klar, die Etats können schrumpfen. Und als Erstes wird immer am Personal gespart. Für Gäste ist das total schlimm. Werden Theater in Zukunft grundsätzlich auf Gäste verzichten? Werden Regisseurinnen und Regisseure angehalten werden, von zehn auf sieben Rollen zu streichen, damit ein Stück gänzlich vom Ensemble bestritten werden kann? Das wird eine spannende Zeit, und man kann nur das Beste hoffen.
Für die Premiere am Freitag um 19.30 Uhr gibt es noch Restkarten (hier). Die zweite Vorstellung am 27. Juli ist bereits ausverkauft.
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