"Frau Schmidt fährt über die Oder" in den Kammerspielen: Vor dem Polexit

"Frau Schmidt fährt über die Oder" von Anne Habermehl im Werkraum der Kammerspiele.
von  Mathias Hejny
Anna Gesa-Raija Lappe als Annemarie.
Anna Gesa-Raija Lappe als Annemarie. © Julian Baumann

Sie durfte nie in der Öffentlichkeit ihre Sprache sprechen, erinnert sich Susanne Schmidt - "wegen den Nationalisten". Die Tochter Annemarie hakt nach: "Den deutschen oder den polnischen?" Es waren Polen, und der Hintergrund, den Susanne liefert, ist wenig erhellend: "Die polnischen Nationalisten sind nicht so schlimm wie die deutschen. Die sind katholisch. Die haben wenigstens Weihrauch." Und die Welt zwischen Ost und West ist sehr unübersichtlich geworden, erzählt Anne Habermehl in ihrem neuen Stück "Frau Schmidt fährt über die Oder".

"Frau Schmidt fährtüber die Oder": Kreis durch die letzten 30 Jahre

Die Handlung beschreibt einen Kreis durch die letzten 30 Jahre. Mit nur 62 Jahren stirbt Susanne 2021 im oberfränkischen Marktredwitz. Dorthin verschlug es sie 1990, nachdem sie als Spätaussiedlerin Breslau verlassen hatte. Polnische Rechtsradikale hätten sie vertrieben, berichtet sie. Im gleichen Jahr wurde Annemarie geboren. Als das Kind 13 ist, will Susanne wieder zurück nach Polen, denn die einst glühende Sozialistin ist enttäuscht von der utopielosen Zeit nach der Wende. Mit dem Vater Annemaries hat sie gebrochen, denn er hat sich vom idealistischen Solidarnocz-Helden zum Politiker der rechtspopulistischen PIS entwickelt. Das stinkt ihr gewaltig: "Ja, PIS. Wie Pisse!"

Habermehl eröffnet mit Susannes Großvater Wilhelm, Jahrgang 1917, ein weiteres historisches Fenster in die Vergangenheit. Er denkt zurück an einen Tag im Jahr 1944, als er als Leutnant der Reichswehr einen Militärschlag gegen polnisches "Ungeziefer" leitete. Walter Hess spielt den greisen Kriegsveteran mit nostalgiefreier Härte. Als Regisseurin hat Habermehl auch dem übrigen Ensemble dem Spielen auf der Klaviatur der Emotionen enge Grenzen gesetzt.

Geburtsjahr: "oft"

Nur selten werden Johanna Eiworth als Susanne und Anna Gesa-Raija Lappe als Annemarie und manchmal als ihre Mutter (erkennbar an den Schuhen) aggressiv, wenn sie mal wieder Manövrierrmasse der Geschichte geworden sind. Ein surreales Element bringt Micha (Frangiskos Kakoulakis) ein. Sein Geburtsjahr wird mit "oft" angegeben. Er schweift durch die Jahrzehnte und ist sowohl kurzsichtiges Mobbingopfer rechtsradikaler Schläger als auch ein erfolgreicher Unternehmer mit Visionen.

Mit der letzten Szene kehrt die Handlung zurück nach 2021. Annemarie besucht ihre sterbende Mutter, und mit den letzten Sätzen zeigt sie erste Symptome, von rechter Ideologie infiziert zu sein. Draußen lauern völkische "Glatzköpfe", und "wenn die jetzt kommen, dann mach ich die Tür auf und trinke mit ihnen ein Bier. Oder zwei. Ich habe ein Recht auf Heimat." In einer alltäglichen und doch poetischen Sprache verknüpft Habermehl Eckpunkte der Geschichte zwischen den Nationalsozialisten und ihren gegenwärtigen Epigonen beidseits der Oder.

"Frau Schmidt fährt über die Oder": Der erste Teil einer Trilogie

Das Timing für diesen Text könnte kaum besser sein. Am Tag der Uraufführung im Werkraum tobte im EU-Parlament in Brüssel eine Redeschlacht über Einschränkungen der Rechtsprechung und der Medien und homophober Gesetzgebung der von der PIS angeführten polnischen Regierung. Ein möglicher "Polexit", der den Verstößen gegen die "europäische Hausordnung" folgen könnte, wird Europa noch lange beschäftigen. Da "Frau Schmidt fährt über die Oder" der Beginn einer geplanten Trilogie ist, dürfte es spannend sein zu verfolgen, wie Anne Habermehl ihre mitteleuropäische Geschichte weiter erzählen wird.


Münchner Kammerspiele, Werkraum, wieder 10. und 11. November, 20 Uhr, Telefon 089/23396600

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.