"Feeling Faust" im Münchner Volkstheater: Der letzte Abiturient

Claudia Bossard inszeniert "Feeling Faust" am Münchner Volkstheater.
von  Anne Fritsch
Im zweiten Teil von "Faust"öffnet sich ein strahlend weißer Raum. Foto: Gabriela Neeb
Im zweiten Teil von "Faust"öffnet sich ein strahlend weißer Raum. Foto: Gabriela Neeb © Gabriela Neeb

München - Ein berechtigter Ansatz ist es, die Krisen der Zeit als eine "Krise der Männlichkeit" zu lesen. Immerhin resultieren sie aus Zeiten, in denen Männer das Sagen hatten, in denen Männer Eroberer und Kolonialisten waren, Kapitalisten und Globalisten. Johann Wolfgang von Goethe nun war kein Eroberer im engen Sinne, aber doch so etwas wie ein Kolonialist des Geistes.

Claudia Bossard hat sich beide Teile des Faust-Dramas vorgenommen

Er begab sich auf Reisen, und seine Sicht der Dinge und Länder wurde die gültige für all die, die daheim bleiben mussten. Die Regisseurin Claudia Bossard hat sich nun am Volkstheater für ihren Abend mit dem Titel "Feeling Faust" beide Teile des Faust-Dramas vorgenommen. Ihr geht es nicht nur um das größte aller deutschen Dramen, sondern auch und vielleicht noch mehr um dessen Schöpfer, um den "Dichterfürsten", der die Wahrnehmung deutscher Literatur prägte wie kein anderer.

Wie der "Faust" aus zwei Teilen besteht, ist auch diese Inszenierung zweiteilig aufgebaut. Und wie das Original hebt auch dieser Faust-Kommentar immer mehr ab. Bühnenbildnerin Elisabeth Weiß hat links eine schalldichte Glaskabine platziert. Wer hier spricht, wird auf eine Leinwand über der Bühne übertragen. Eine Laufschrift versammelt Zitate aus dem "Faust", die wie Kommentare zum Geschehen auf der Bühne wirken: ein "Ach" hier, ein "Hier bin ich Mensch" da.

Germanisten-Spezialisten-Runde im grünen Studio

In einem grünen Studio findet sich eine Germanisten-Spezialisten-Runde. Anlass: der "Faust" ist auf Theaterspielplänen weniger präsent und seit kurzem nicht mal mehr Pflichtlektüre an bayerischen Gymnasien. Abitur ohne Faust, das ist fortan möglich. Skandal? Oder egal? Ist der literarische Boden, auf dem wir wandeln, nun instabil - oder ist dieses Drama der Männlichkeit verzichtbar? Ist der "Faust" "ein Fall für die Ewigkeit oder ein ewiger Fall in die Tonne"? Luise Deborah Daberkow, Carolin Hartmann, Maral Keshavarz, Steffen Link, Janek Maudrich, Jan Meeno Jürgens und Liv Stapelfeldt diskutieren sich um Kopf und Kragen.

Dieser "literarische Brennpunkt" knöpft sich den "Faust" vor, diesen "Mount Everest der Weltliteratur oder lokaler: diese Zugspitze". Die Laufschrift kommentiert mit einem Augenzwinkern: "Das Unbeschreibliche/Hier ist's getan" und auch: "Das Ewig-Weibliche/Zieht uns hinan". Denn ja: Hier werden nicht nur das Werk und sein Schöpfer auseinander genommen, sondern das Konzept männlicher Dominanz an sich.

Gretchen wird konsequenterweise gestrichen

In diesem Hier und Jetzt, das die Diskutanten gerne ein wenig lateinisch "hic und nunc" nennen, wird Goethes verschrobenes Liebesleben ebenso wenig verschont wie die Tatsache, dass die damalige Welt so einem Gretchen auch außerhalb des Kerkers "0 Möglichkeiten bereit hielt". Dass sich also keiner um deren Rolle reißt, war abzusehen, das Gretchen wird konsequenterweise gestrichen.

Es öffnet sich ein strahlend weißer Raum mit Treppe zur Erleuchtung

Noch kurz eine Reclam-Torte verspeisen, bevor Maral Keshavarz der Kragen platzt, sie das Studio abräumen lässt und die anderen mit Fausts Startmonolog furios ins Drama zwingt. Es öffnet sich ein strahlend weißer Raum mit Treppe zur Erleuchtung und einer Palme, die für die weite Welt stehen mag, in die Faust sich in Teil 2 aufmacht. Ab da wird es assoziativ.

Während alle im leeren Raum herumirren, meldet sich Alexandros Koutsoulis aus dem Publikum zu Wort, als der "letzte Abiturient", Homunkulus oder auch als Pudel. Ganz klar wird das nicht, es beginnt ein wildes Treiben, in dem sich Motive aus den beiden Faust-Teilen mit der Welt da draußen vermischen. Des Pudels Kern, er gerät aus dem Fokus. Steffen Link, der zu Faust und Goethe wird, übernimmt auch Texte von Gretchen, wird, was er schon immer war: der Mittelpunkt seines Universums. Die selbstermächtigte Sonne, um die gefälligst alles und alle zu kreisen haben: "Zweifel kenn ich nicht", stößt er hervor. "Kann man das essen?" Er macht sich die Welt, wie sie ihm gefällt. Das männliche Ego als Universalgenie und -bestimmer.

Am Ende erobern die von Goethe vergessenen Frauen die Bühne

Dass selbst das neuerbaute Volkstheater nach seiner Farbenlehre gestaltet wurde, ist ihm natürlich ein Fest. Die Souffleuse nennt er "Puppe", kulturelle Aneignung ist sein zweiter Vorname. Sein Motto: "Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein." Die anderen? Statisterie im faustischen Parallelkosmos.

Am Ende erobern die von Goethe vergessenen Frauen, die Mütter, in grellen Kostümen von Andy Besuch die weiße Bühne. Sie tragen ihre Weiblichkeit ebenso demonstrativ wie ihre Schnurrbärte. Sie sind all das, was bei Goethe keinen Platz hat, das Frauliche, das Diverse. Doch da ist ohnehin alles bereits in Auflösung begriffen.

Vieles an diesem Abend ist aktuell und wichtig und richtig. Aber auch wenn sich das an den bayerischen Gymnasien ändert: Für diesen Abend ist der "Faust" dann doch Pflichtlektüre. Wer ihn nicht kennt, wird sich hier ein wenig fühlen wie der Ox am Berg oder eben der gute alte Faust, der nicht versteht, "was die Welt im Innersten zusammenhält". Dieses dekonstruktivistische Konzept ist dann doch leider bildungsbürgerlicher als wahrscheinlich gewünscht.

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