Famos! "Alice im Wunderland" von Christopher Wheeldon

Nationaltheater: Zum Auftakt der Ballettfestwoche tanzt das Staatsballett in Christopher Wheeldons „Alice im Wunderland“ spitzenmäßig verrückt
von  Vesna Mlakar
Das Staatsballett tanzt "Alice im Wunderland" im Nationaltheater
Das Staatsballett tanzt "Alice im Wunderland" im Nationaltheater © Wilfried Hösl

Es gibt Produktionen, da lässt man die spitze Kritikfeder am besten stecken. Christopher Wheeldons sechs Jahre alte Ballettkreation „Alice im Wunderland“ zählt hierzu. Sie ist einfach zu fantastisch – und in ihrer stilübergreifenden Vielschichtigkeit, multimedialen Verschränkung, dramaturgischen Cleverness nebst unglaublicher Detailfülle unmöglich auf Anhieb voll erfassbar.

Dabei hat der 44-jährige Engländer seine Adaption der irrsinnigen Abenteuer aus Lewis Carrolls 1865 veröffentlichtem Kinderbuch-Klassiker völlig realistisch-logisch entwickelt: Die Zeitreise der Titelfigur durch traumwandlerisch-bizarre Welten beginnt bei einer familiären Gartenparty viktorianischen Zuschnitts.

Wackelnde Süßspeisen

Die Szene erinnert in ihrer tanzeloquenten Machart an die Handlungsballett-Granden des Londoner Royal Ballet: Frederick Ashton und Kenneth MacMillan. Wheeldon und sein für die bombastisch-einfallsreiche Ausstattung verantwortliches Team versammeln hier sämtliche handlungstragenden Figuren. Choreografisch genial gespickt mit vielen Kostüm- und Requisitenideen, die auf den Fortgang der Geschichte hinweisen.

Angesichts wackelnder Süßspeisen und einem Bayerischen Staatsballett in Bestform gehen einem schon in den ersten 20 Minuten die Augen über. Aufgepasst, der Magier unter hoch aufgerollten Locken ist Shooting-Star Jonah Cook! Bei seinen crazy Hutmacher-Shownummern ist er später super gut auf klackernden Steppschuhen unterwegs – zu Joby Talbots tickender, schlagwerkreicher und eigens für dieses Werk komponierter Musik.

Neckisch und lustig

Beim Entree des Radschas mit seinem Harem lernt man Ensemblemitglied Henry Grey näher kennen. In seinen butterweichen Rückenwindungen schlummert Carrolls Dope qualmende Raupe. Als solche treibt er Alice im zweiten Akt mitten in eine psychedelische Selbsterfahrung hinein. Was so aussieht, dass sich die herrlich natürlich agierende Ballerina in ein großes Ensembletableau aus neoklassisch herumwirbelnden Paaren stürzt.

Ihr erster Versuch, in diesen verwunschenen Garten zu gelangen, scheitert an einem viel zu winzigen Türchen. Sogar die Erfahrung des Wachsens und Schrumpfens lässt Wheeldon seine Hauptprotagonistin mit Hilfe von Perspektivwechseln und Theatereffekten austanzen. Dass Alice und der Sohn des Gärtners sich mögen, wird in einem neckischen Pas de deux erzählt.

Maria Shirinkina und Vladimir Shklyarov – exzellente Premierenbesetzung der nahezu durchgehend präsenten Hauptfigur und des von Häschern gejagten Herzbuben – laden ihre Begegnung zum Hinschmelzen schön mit dem pubertären Aufflammen einer ersten Liebe auf. Doch so ein im 19. Jahrhundert unziemliches Techtelmechtel, beidem das Paar Rose gegen Keks (zwei der immer wiederkehrenden Leitobjekte) tauscht, duldet die resolute Mutter nicht. Sie bezichtigt den Burschen des Diebstahls und lässt, indem sie ihn feuert, bereits Züge ihres imaginären Alter Ego aufscheinen.

Ein exzellentes Ensemble

In diesem Part der dominanten High-Society-Lady und gnadenlosen Herzkönigin triumphiert mit mimisch-royalem Furor Séverine Ferrolier. Man könnte meinen, Wheeldon hätte ihr seine Parodie auf das Rosenadagio aus „Dornröschen“ auf den Leib choreografiert. Eingepfercht in einen rollenden Herzpanzer oder nicht: Ferrolier ist die Komik-Queen auf Spitzen.

Ihr zur Seite agiert Norbert Graf. Obwohl nur mit der Nebenrolle des ewig fügsamen Gatten und Strumpfhosenkönigs betraut, offenbart der Münchner Kammertänzer, welch’ großartiger Charakterdarsteller in ihm steckt. In der turbulenten Gerichtsverhandlung des 3. Akts sieht sich der Zuschauer deshalb mit einer schwierigen Entscheidung konfrontiert: entweder das wahnwitzige Dialogspiel zwischen den beiden weiterzuverfolgen oder sich dem – in vollendeter künstlerischer Harmonie schwelgenden – Traumpaar Shirinkina/Shklyarov hinzugeben.

In die Herzen getanzt

Javier Amo, der den mit Alice’ Familie befreundeten Schriftsteller ideal verkörpert, hat den Auslöser seines Fotoapparats gedrückt. Und schon verschieben sich in Wheeldons grandioser, von Herausforderungen für Tänzer und Technik strotzender Ballett-Show optisch und musikalisch die Realitätsgrenzen. Ruckzuck wird Amo auch gestisch zum weißen Kaninchen und entführt Alice durch einen filmisch animierten Zaubertunnel.

Wer sich nicht amüsiert bei den köstlich-virtuosen Duetten von Fisch und Frosch (Marco Arena, Konstantin Ivkin) oder bei der gruseligen (musikalisch Prokofjews „Danse infernale“ nachempfundenen) Küchenschlacht, in der sich Matej Urban als Herzogin und Mia Rudic als mordlustige Köchin in schwarzem Humor nur so suhlen, dem ist nicht zu helfen. Wheeldons riesige Grinsekatze und die kleinen Igel müssen einfach alle Herzen erobern.

Wieder am 20., 23., 28., 30. April und am 4., 19., 29. Mai im Nationaltheater. Karten unter Telefon 2185 1920

 

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