"Eure Paläste sind leer": Ein mächtiger Brocken Theater

Die Uraufführung von Thomas Köcks "Eure Paläste sind leer (all we ever wanted)" in den Kammerspielen wird mit lang anhaltendem Beifall bedacht.
von  Mathias Hejny
Die Kinski-Puppe, Michael Pietsch, Bernardo Arias Porras und Katharina Bach auf der Suche nach El Dorado.
Die Kinski-Puppe, Michael Pietsch, Bernardo Arias Porras und Katharina Bach auf der Suche nach El Dorado. © Armin Smailovic

Klaus Kinski stand dem Puppenbauer Michael Pietsch Modell. Die legendäre Fachkraft für Psychopathen spielte 1972 in Werner Herzogs "Aguirre, der Zorn Gottes" den wahnsinnsnahen Lope de Aguirre, der zur Tyrannei neigte und Mitte des 16. Jahrhunderts aufbrach, um in Venezuela das Goldland, das sagenhafte El Dorado, zu finden.

Regisseur Jan-Christoph Gockel lässt ihn in den Kammerspielen nicht zu Pferd oder zu Schiff reisen, sondern, in Gestalt einer von seiner spanischen Ritterrüstung gepanzerten Puppe, einen VW Golf der zweiten Generation fahren.

Zwischendurch blättern er und seine Reisegefährten in einem Prospekt von VW do Brasil. Die südamerikanische Filiale des niedersächsischen Autobauers, der sich als Büttel der damaligen Militärdiktatur schuldig gemacht hat, ist nur eine aus der Fülle von Verweisen und Assoziationen, die in der Uraufführung von "Eure Paläste sind leer (all we ever wanted)" stecken.

Gockel und der österreichische Autor Thomas Köck erklären die Geschichte der Konquistadoren als noch nicht beendet, sondern sehen einen bis zum heutigen Tag wirksamen Kolonialismus.

Eine Fülle von Verweisen und Assoziationen

So wird das goldene M von McDonald's, wenn man es um 45 Grad dreht, zum E von El Dorado, von dem Ronald McDonald auf Rollschuhen kündet.

Köck ist, wie seine Landsmännin Elfriede Jelinek, wenig an überlieferten Formen des Stückeschreibens interessiert. Es gibt keine Rollen.

Das Manuskript ist mit durchgehender Kleinschreibung und fehlender Interpunktion kein Lesevergnügen. Doch unter der Buchstabensteppe liegt eine musikalisch rhythmisierte Sprache, der man, nicht zuletzt des spielerisch aufgelegten Ensembles wegen, auch dann gebannt lauscht, wenn sie sich der Deutung entziehen will.

Denn die vielen Orte und Zeiten, die inhaltlichen und stilistischen Ebenen, die Kapitalismuskritik alter Schule, die nach Höherem strebende Lyrik und der lässig hingeworfene Kalauer gleiten widerstandsfrei ineinander.

Zwischen Kapitalismuskritik und Kalauer

In Einzelfällen hilft die Lektüre des von Dramaturg Tobias Schuster klug betetexten Programmhefts, um zu verstehen, warum, zum Beispiel, ein Attentäter im Bademantel mit jesushafter Frisur an das McDonald's-M gekreuzigt eine dann doch scheiternde Himmelfahrt erlebt.

Die Inszenierung packt zu Köcks Wundertüte noch eine weitere Ebene: Die Münchner Kammerspiele als Schauplatz. Bühnenbildnerin Julia Kurzweg baute den Rang auf der Bühne nach, allerdings als malerische Ruine.

Im Jahr 2026 wurde das Schauspielhaus geschlossen, so wird erzählt, und zum Parkhaus umfunktioniert. Danach wurde es nicht mehr gebraucht und zerfällt seither. Trotzdem wird es von den Wiedergängern der früheren Zuschauenden bevölkert. Wenn der Vorhang sich öffnet, betrachtet das fiktive Publikum das real existierende Publikum in minutenlangem Schweigen, bis sich etwas regt - vom genervten Kritiker bis zur Zuschauerin, die vor ekstatischer Begeisterung vom Balkon fällt.

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Blinder Seher mahnt zu neuen Bildern 

Der nicht chronologisch betretene Zeitraum ist aber viel größer als zwischen der Eroberung Amerikas und der nahen Zukunft der Maximilianstraße. Aus der griechischen Antike ist der blinde Seher Teiresias ein ständiger Begleiter und Mahner für "neue Bilder". Der Zeitreisende mit der blutigen Augenbinde beklagt den "Stoff der Geschichte, ein Melodram gebaut aus den immer gleichen Bildern, die kein Ende kennen".

Die zweite Gestalt, die durch die Historie stapft, ist ein kleiner Junge, eine Marionette mit traurigem Blick als Repräsentant der kommenden Generationen.

Das ist ein mächtiger Brocken Theater, der sich in seinem Anspruch der Vollumfänglichkeit auch immer wieder im Wege steht.

Aber das Publikum des Premierenabends schien sich in der virtuos zornigen Hilflosigkeit gegenüber der weiterhin vorsätzlich betriebenen Verschiebung der Weltrettung wiederzuerkennen und dankte mit lang anhaltendem Beifall.


Schauspielhaus, wieder am 22. November, 13. Dezember, 19.30 Uhr, 28. Dezember, 19 Uhr, Telefon 23396600

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