Erschreckend, wie sich Geschichte wiederholen kann

Vladimir Jurowski spricht in der Evangelischen Akademie in Tutzing über den Ukraine-Krieg.
von  Robert Braunmüller
Vladimir Jurowski mit einem Anstecker in den ukrainischen Farben und einer weißen Friedenstaube in der Evangelischen Akademie.
Vladimir Jurowski mit einem Anstecker in den ukrainischen Farben und einer weißen Friedenstaube in der Evangelischen Akademie. © Oryk Haist/EAT

In dem Dokumentarfilm "No fear" sagt der in Russland geborene Pianist Igor Levit, dass er den Tag seiner Ankunft in Düsseldorf fast wie einen Geburtstag feiere. Auch Vladimir Jurowski kann sich genau an das Datum seiner Einreise erinnern, das er nach eigenen Worten wie seinen Hochzeitstag begeht: 1989 kam der aus Moskau stammende Dirigent im Alter von 18 Jahren mit seiner Familie nach Deutschland, als sein Vater ein Engagement in Dresden antrat.

Der Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper und Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin sprach am Samstag in der Evangelischen Akademie Tutzing mit Sybille Giel über seine persönliche Sicht auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Jurowski hält nach wie vor Kontakt zu Freunden und Bekannten. Er habe verlässlich davon gehört, dass Männer im Rahmen der Mobilmachung direkt von ihrem Arbeitsplatz an die Front geschickt und dort umgekommen seien.

Jurowski hat die ukrainische Nationalhymne ins Programm genommen

Russland wird Jurowski in nächster Zeit verschlossen bleiben. Der Dirigent strich unmittelbar nach dem Angriff den "Slawischen Marsch" von Peter Tschaikowsky aus dem Programm eines Konzerts in Berlin. Er ersetzte dieses Werk in Absprache mit dem Orchester demonstrativ durch die Hymne der Ukraine, deren Noten er aus dem Internet herunterlud. Bis heute trägt er stets einen gelb-blauen Anstecker am Revers seines Sakkos.

Die Programmänderung war ein Sonderfall, von einem generellen Boykott russischer Werke hält Jurowski nichts. Ihm missfällt auch, dass die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv in ihrer Heimat angegriffen wird, weil sie weiter Musik von Tschaikowsky dirigiert. "Tolstoi lässt sich missbrauchen", sagt der Dirigent mit Blick auf die bevorstehende Neuinszenierung von Sergej Prokofjews Oper "Krieg und Frieden" im Nationaltheater. Und das gilt bei diesem während des Zweiten Weltkrieg unter dem kulturpolitischen Diktat Stalins entstandenen Werk gleich in mehrfacher Hinsicht.

Jurowskis Bruder arbeitet nach wie vor in Nowosibirsk

Jurowskis Mutter stammt aus Kiew, einer seiner Urgroßväter wurde beim Massaker von Babyn Jar ermordet, das die deutschen Truppen 1941 in der Nähe der ukrainischen Hauptstadt an jüdischen Männern, Frauen und Kindern begingen. Der Bruder des Dirigenten arbeitet nach wie vor in Nowosibirsk, andere Mitglieder seiner Familie haben das Land verlassen.

Schon nach 1989 blieb Jurowski seiner Heimat 12 Jahre fern, weil er den Wehrdienst nicht abgeleistet hatte. Seine Karriere vollzog sich im Westen: an der Komischen Oper Berlin, beim London Philharmonic Orchestra und in Glydebourne. Von 2011 an war er dann auch Künstlerischer Leiter des Staatlichen Akademischen Sinfonieorchesters Russlands. Dabei habe er wichtige künstlerische Freundschaften geschlossen, die nun hinter einem "neuen Eisernen Vorhang" verschwunden seien.

Jurowski: "Mich erschreckt, wie sich die Geschichte wiederholt"

"Das Land begann sich von innen zu schließen" - so sein Eindruck über die Entwicklungen der letzten Jahre. Erste Einschränkungen habe das Kino und das Theater betroffen, die Musik sei von der politischen Entwicklung lange Zeit unberührt geblieben. Ohne Gastspiele aus dem Westen drohe das Musikleben zu verarmen. Nun herrsche ein vergiftetes Klima der Suche nach inneren Feinden, ähnlich wie im Russland der 1930er Jahre und im Amerika der Kommunistenjagd des Senator Joseph McCarthy.

"Mich erschreckt, wie sich die Geschichte wiederholt", so der Dirigent. Was ein Ende des Kriegs angeht, ist er wenig optimistisch. An ein schnelles Ende glaubt Jurowski nicht, eher an eine dauernde Verfestigung der Gegensätze wie im Nahen Osten. Aber er sei vorsichtig mit Prognosen, weil er den Krieg nicht vorhergesehen habe. Und so wollen wir hoffen, dass er sich auch diesmal irrt.


Jurowski dirigiert am 17., 20., 23. und 27. November die Oper "Elektra" von Richard Strauss im Nationaltheater. Die Premiere von "Krieg und Frieden" findet am 5. März statt

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