Elektrisierende Hochspannung in "Tosca"

Ob Lise Davidsen wohl auf der Bühne schon einmal die Schulter angeknabbert bekommen hat? Wenn sie bereits mit Bryn Terfel zusammen gearbeitet hat - vielleicht ja. Wohlgemerkt ist das intime Körperteil unter Stoff ausreichend geschützt, und der Bariton deutet in der Rolle des Scarpia in "Tosca" von Giacomo Puccini diese übergriffige Geste auch nur kurz an.
Vorher hat er, als er in heuchlerischer Freundlichkeit Toscas Sonnenbrille putzte, einmal kurz über das Glas geleckt. Auf der Bühne gehen Terfel einfach die Gäule durch, auch gesanglich: Selbst weitgespannte Melodielinien sind durch die komplette Verderbtheit des bösen Barons im Ansatz verzerrt.

Kurz: Bryn Terfel lässt keine Gelegenheit aus, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, auch, wenn er gerade gar nicht dran ist. Bei Lise Davidsen gerät er da genau an die Richtige. Nicht nur kann die hochgewachsene Norwegerin dem walisisches Hünen mühelos in die Augen schauen - mindestens!
Der Boden scheint zu vibrieren
Bei ihrem ersten Auftritt hält sie sich noch merklich zurück, und dennoch schimmert und glüht ihr Sopran schon in allen möglichen Farben. Und wenn sie mit ihrem naturhaft erhabenen, dabei technisch makellos kontrollierten Organ so richtig loslegt, scheint der Boden der Staatsoper zu vibrieren. Eine solche allein körperliche Wucht ist selten zu erleben, und Lise Davidsen setzt sie in ihrem einzigartigen Porträt der Tosca überlegt und mit vollendetem Geschmack ein.

Die Rolle des Cavaradossi hat Freddie De Tommaso von Charles Castronovo und Jonas Kaufmann übernommen, und der Kontrast könnte nicht krasser sein. Wo sich Kaufmann stimmschonend mäßigte, verschenkt sich der junge Italo-Brite ohne Rücksicht. Er kann es sich leisten: Sein Tenor ist timbriert wie glühender Stahl, auch in der außerordentlich substanzvollen Mitte und Tiefe.
Dramatischer Sog
Vor allem aber gebietet Freddie De Tommaso über eine vor Kraft strotzende Höhe, die so stabil ist, dass er sie sogar auf einem Spitzenton abdämpfen und wieder anschwellen lassen kann. Wenn er ein hohes "H" fast protzerisch einen Tick zu lang hält, folgt ihm Oksana Lyniv am Pult des Bayerischen Staatsorchesters bereitwillig. Einige Male aber gibt sie den drei hinreißenden Rampensäuen auf der Bühne nicht nach, wodurch gesungene und gespielte Kantilenen sich momentweise gegeneinander verschieben.
Man kann das als mangelnde Rücksicht auf die Sänger kritisieren. Oksana Lyniv aber hat den starken Willen, den dramatischen Sog, den Puccini komponiert hat, nicht in eine Reihe von schönen Momenten zerfallen zu lassen. Fulminant ist die Kompaktheit der Streicher, die rhythmische Durchschlagskraft der Holzbläser, das Rauschhafte des genau zu den richtigen Momenten entfesselten Blechs.
Letztlich ist Oksana Lyniv die Dirigentin des Ganzen, und ihr starker Wille, diese Macht nicht den Sängern zu überlassen, führt zu jener knisternden Hochspannung, die diese Aufführung so erregend macht.
Weitere Vorstellungen am 26. und 29. September (17 Uhr), 2. Oktober (19 Uhr) im Nationaltheater