"La Cage aux Folles" im Gärtnerplatztheater: Wirklich weitläufig wirkt das nicht mehr

Es ist nicht nur ein großer Musical-Moment, es ist ein wahrhaft großer Moment des Musiktheaters: Der von einem schwulen Paar gemeinsam aufgezogene Jean-Michel hat seine De-Facto-Mutter Albin eben mehr oder weniger aus der Wohnung geworfen, weil er seinen reaktionären Schwiegereltern in spe heterosexuelle Bürgerlichkeit vorspielen will.
Das Orchester verstummt, und Albin beginnt, als Frau kostümiert, unbegleitet die große queere Selbstermächtigungs-Hymne "I Am What I Am" zu singen.
"La Cage aux Folles" im Gärtnerplatztheater München: Kopfüber ins pralle Leben eines Nachtclubs
Armin Kahl steckt in der Neuinszenierung von Jerry Hermans Musical "La Cage aux Folles" im Gärtnerplatztheater seine ganze Energie in diesen Song. Wenn dann das Ensemble einsetzt, lässt die Kraft etwas nach – womöglich premierennervositätsbedingt, womöglich gebremst durch die mäßige deutsche Übersetzung. Aber durchaus symbolisch für eine Aufführung, die zwar bestens die Zeit vertreibt, aber immer dann, wenn sie auf's Ganze gehen müsste, leise enttäuscht.

Daran hat der Komponist Jerry Herman seinen Anteil. Das 1983 am Broadway uraufgeführte Musical nach dem Theaterstück von Jean Poiret und der Verfilmung von Édouard Molinaro hat nur diesen einzigen gewaltigen Hit. Sonst bietet "La Cage aux Folles" musikalische Konfektion von der Stange.
Und letztendlich handelt es sich um komödiantisches Sprechtheater, das mit Revueszenen mehr schlecht als recht zum Musical aufgepeppt wurde. Das ist nur durch gute Darsteller und eine rasante Inszenierung zu retten, was Josef E. Köpplinger zwar weitgehend, aber nicht völlig gelungen ist.
Die Ouvertüre springt in Daten und Fakten von der halbwegs diskriminierungsfreien Gegenwart in die 1970er-Jahre zurück, als Homosexualität in Frankreich und anderswo noch als "gesellschaftliche Plage" galt. Die Aufzählung intoleranter monotheistischer Religionen beschränkt sich ausnahmsweise nicht nur auf den Katholizismus.
Doch bevor es wirklich kritisch und politisch werden könnte, springt die Inszenierung lieber kopfüber hinein ins pralle Leben eines Nachtclubs an der Côte d'Azur, wie es einem die Kulturindustrie und die französische Tourismuswirtschaft vorgaukeln.

Köpplingers Inszenierung setzt auf Tempo. Das ist bisweilen so rasant, dass es auf Kosten der Psychologie und der Entfaltung komplexerer Entwicklungen geht. Immerhin ergänzt Paul Clementi sein Porträt des symphatischen Sohnes mit ein paar kleinkarierten Charakterzügen. Dafür bleibt die Beziehung des zwischen Zofe und Butler schrill schillernden Jacob (Christian Schleinzer) zu dem explizit monogamen Paar unklar und sein Streben nach der Bühne ein Backstage-Comedy-Klischee.

Wirklich weltläufig ist das Stück heute nicht mehr
In den Szenen mit dem reaktionären Abgeordneten und Brautvater wird unnötigerweise die Grenze zum Schwank überschritten. Was nicht am tapferen Erwin Windegger liegt, sondern an der Regie, die sich einen zu billigen Sieg über den Gegner gestattet. Etwas gefährlicher hätte diese Figur auch aus gegenwärtigen Gründen schon sein dürfen.

Daniel Prohaska (Georges) glänzt als Conferencier, liebender Mann und singender Schauspieler. Armin Kahl betont Albins feminine Seite etwas zu affektiert. Hier wirkt das Stück stark gealtert. Staub liegt auch auf der französischen Nachtclubromantik en travesti mit viel Bein, hochgeworfenen Röcken und Strapsen.
Jerry Herman hat da mit wenig Glück Offenbachs Can-Can noch einmal zu komponieren versucht. Man hört und sieht gern zu. Aber wirklich weltläufig wirkt das nach 40 Jahre nicht mehr.

Die Botschaft der Toleranz dürfte jeden halbwegs gutwilligen Zuschauer erreichen. Aber die von Rainer Sinell und Alfred Mayerhofer üppig ausgestattete und von Adam Cooper flott choreografierte Aufführung erschöpft sich leider in einer polierten Oberfläche.
Köpplinger bemüht sich zwar redlich, mit Hilfe der überreichlichen Nebenfiguren individuelle Geschichten über die verschiedensten erotischen Schattierungen zu erzählen. Aber das Tempo verdichtet alle Differenzierungsversuche zum Klischee. Und so entfaltet sich die eigentliche Stärke des Regisseurs, musikalisches Unterhaltungstheater psychologisch zu vertiefen, hier nicht zur vollen Blüte.
Das Premierenpublikum einschließlich der Kessler-Zwillinge hatte einen schönen Abend. Unser angestammtes, vornehm queeres Herrscherhaus saß in der Mittelloge neben Bayerns Kunstminister Markus Blume. Der erholte sich von einer turbulenten Woche samt einer neu aufgeflammten Raubkunstdebatte. Ja, soviel Eskapismus darf sein, und dafür ist das Gärtnerplatztheater mit seiner knallbunten Utopie der richtige Ort. Denn die nächsten Wochen werden für uns alle schwierig genug.
Wieder morgen sowie am 3., 4., 19., 21., 28., 29. März und am 5. April sowie im Juni. Karten unter gaertnerplatztheater.de