"Ein Kuss" im Hoftheater: Mitreißender Bewusstseinsstrom

Das neue Hoftheater im Stemmerhof eröffnet mit dem sehenswerten Ein-Personen-Drama "Ein Kuss".
von  Mathias Hejny
Marco Michel spielt den unglücklichen Künstler Antonio Ligabue.
Marco Michel spielt den unglücklichen Künstler Antonio Ligabue. © Jürgen Ruckdeschel

Heute gilt er als Vincent van Gogh der Schweiz. Was beide gemeinsam haben, ist die Getriebenheit, die lebenslange Existenz am Rande und auch abseits der Gesellschaft, mit der sie nur mit ihrem künstlerischen Werk in Kontakt kommen, aber auch die intensive Farbigkeit. Der fiebrige Expressionismus des Niederländers freilich ist beim Schweizer, der mit 19 nach Italien ausgewiesen wurde, nicht zu finden.

Bilderwelt aus wie rauschhaft auf großformatige Blätter geworfenen Kohlezeichnungen

Die Bilder von Antonio Ligabue werden der Art brut zugerechnet, der "rohen Kunst" von Autodidakten, die ohne akademische Orientierung nur aus ihrem besonderen Talent schöpfen.

Marco Michel ist Absolvent der Theaterakademie August Everding, kommt aber aus der Schweiz wie die Figur, die er in dem von Mario Perrotta geschriebenen und inszenierten Ein-Personen-Drama "Ein Kuss" nicht nur spielt. Vor den Augen der faszinierten Zuschauer entsteht eine Bilderwelt aus wie rauschhaft auf großformatige Blätter geworfenen Kohlezeichnungen bei jeder Vorstellung neu. Sie zeigen "Berge, Mutter, ein Stück Vieh", später auch die markanten Gesichter aus dem Ort, in dem Tonio der viel belachte Dorftrottel ist.

"Ein Kuss" ist zwar einige Jahre alt und wurde schon 2018 in New York als das beste internationale Solostück des Jahres ausgezeichnet, aber das Hoftheater im Stemmerhof setzt damit gleich bei ihrer Eröffnung eine starke Marke, die die Messlatte für den Rest der soeben begonnenen Spielzeit hoch legt. Der Eins-Neunzig-Mann sprengt fast das neue 99-Plätze-Haus in der Plinganserstraße mit schierer physischer Präsenz und macht dennoch nie zu viel Theater.

"Ein Kuss": Packend und pathosfrei erzählt

In einem 75-minütigen Bewusstseinsstrom treiben biografische Fragmente vorbei - die Kindheit in der Schweiz, der Tod der Mutter, die Pflegeeltern und Erziehungsanstalten, aus denen der Unangepasste eines Tages fliegt. Dann das Leben in der Reggio Emilia, wo er die Sprache nicht spricht und er zeitweilig als Eremit im Wald haust.

Er wird gefördert von einem arrivierten Maler aus der Umgebung und hat, barfüßig wie er war, in Rom seine erste Vernissage. Mit Geld und Ruhm kann er aber nichts anfangen. Was den, der nicht aus seiner Haut kann, immer antrieb, war die Sehnsucht nach Nähe - einfach nur ein Kuss. Davon wird so beeindruckend packend wie pathosfrei erzählt.


Hoftheater im Stemmerhof, Sonntag, 17. bis 19., 22. bis 26., 29., 30. September, 1. Oktober, 19.30 Uhr, Telefon 18 90 47 54.

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